Mit W fangen viele Worte an; Wassermelone, Winter, Wunder, Weiher und so manch anderes. Es gibt aber auch Worte bei denen sträubt es mich; (Halb)Waise und Witwe zum Beispiel. Das sind Worte, die zwar unsere Realität wiedergeben, aber dennoch sehr gruselig sind. Wenn ich das Wort Witwe höre, denke ich an diese schwarze, dicke Spinne. Die mit den haarigen Beinen und riesigen Augen. Haarig mögen meine Beine im Moment auch sein, aber riesige Augen hab ich nicht. Vielmehr sind es Miniöffnungen in meinem Gesicht, umrandet von einem Schatten, der seines Gleichen sucht. Außerdem mag ich spinnen nicht.
Früher gab es einmal eine Zeit, die sich „Trauerjahr“ nannte. Die Hinterbliebenen trugen schwarz, waren von vielen Dinge freigestellt. Oft wurde für sie gekocht oder sie wurden anderweitig umsorgt.
Zum Teil bin ich froh, dass diese Zeiten vorbei sind, umsorgen können wir uns ganz gut selbst, denke ich. Heute ist es so, dass man recht schnell nach dem ein Lieblingsmensch gestorben ist, reagieren muss. Sterben ist teuer, kann die Hinterbliebenen ruinieren und vor allem kommen da plötzlich Wellen an Dokumenten, Behördengänge und Anträge auf einen zu. Es fing schon damit an, unseren Helden nach seinem Sieg über Kunibert überhaupt aus der Klinik zu bekommen. Jeder Tag in der Klinik kostet nämlich Geld. Aber dazu an anderer Stelle mehr.
Auch ist es heute so, dass man recht schnell wieder funktionieren muss. „Wann gehst Du eigentlich wieder arbeiten, das lenkt Dich doch bestimmt ab“. Das ist eine Frage, die ich hin und wieder Mal höre. Ja, ich würde gern arbeiten. Nein, ich kann es aber nicht. Ja, ich fühle mich nicht besonders gut damit. Ja, ich komme mir blöd dabei vor. Ich arbeite mit kleinen Kindern, einige von ihnen tragen ein Extra Päckchen. Ich muss Berichte schreiben und mit Jugendämtern verhandeln. Diese Kinder verdienen meine gesamte Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit kann ich ihnen im Moment nicht geben. Simon hat noch immer mein Hirn nicht freigegeben. Unser Held ist nicht mehr da, er kommt nicht zurück. Ich war dabei als er verstorben ist. Nicht nur am 6.7.18 sondern auch schon Wochen und Monate zuvor. Ich bin durch, und in meinem Kopf ist kaum Platz für anderes als die Gedanken an das letzte Jahr. Ich versuche Platz in meinem Hirn zu schaffen um unser Leben 2.0 herreinzulassen. Ich schaffe Platz für Gedanken, dass ich Atmen muss. Ich schaffe Platz für Ideen, die es mir ermöglichen unser Haus und alles was daran hängt, halten zu können. Ich versuche zu verarbeiten, Das Jetzt und das letzte Jahr. Damit hat mein Kopf genug zu tun. Mich nervt es, dass ich nicht mehr Platz in meinem Kopf freiräumen kann. Alles was ich gerade kann ist genau das, und schreiben. Das geht irgendwie fast von allein. Am Rest arbeite ich noch. Es mag sein, dass es andere Hinterbliebene besser gewuppt bekommen, ich beneide sie, schaff es aber selbst nicht.
Dazu kommen diverse Termine. Solltet ihr so clever sein wie wir und keine gegenseitigen, vom Notar beglaubigte Bankvollmachten haben…Jackpot. Ich hatte eine Generalvollmacht von Simon, ich hatte auch seine Gesundheitsfürsorge; aber an eine extra Bankvollmacht dachten wir nicht. Das war ein Fehler. Simon war am Ende nicht mehr „geschäftsfähig“ und durfte mir keine mehr ausstellen. Daher…diese Vollmacht macht Sinn auch wenn ihr völlig gesund seid. Ihr wisst nicht, ob morgen ein Stein unglücklich vom Dach fällt oder eine Autofahrer die Bremse nicht findet. Simons Sterbeurkunde kam nach 5 Wochen. Damit konnte ich mir bei der Bank zumindest erbettelln, dass mir gesagt wurde ob der Kontostand plus oder Minus anzeigt. Wir hatten drei Konten; ein gemeinsames und jeder seins. Kann man gut finden oder nicht, wir handhabten das so. Mittlerweile konnte ich auch erbetteln, dass sämtliche Daueraufträge und Einzugsermächtigungen gestrichen werden. Damit der Dispo nicht ins Nirvana rutscht. Mehr geht nicht. Für mehr brauche ich einen Erbschein. Ohne den kann ich kein Konto lösen oder Zahlen einsehen. Um den Erbschein zu beantragen brauchte ich die Sterbeurkunde. In Berlin dauert es durchschnittlich 6 Monate bis der Erbschein da ist, mit Hilfe der Notarin geht’s hoffentlich schneller. Ihr braucht im Notfall starke Nerven. Suspekt oder?
Heute gibt es auch so seltsame Dinge wie die Hinterbliebenenrente. Darauf wies mich die Sozialarbeiterin bereits in der Klinik hin, als unser Held dabei gewesen ist sein Flügel aufzuspannen. Fehl am Platz.
Ich habe diese Rente für Leo und mich beantragt, da Emma biologisch nicht mit Simon verwandt ist. Ich schickte dann ein Paket von ca. 60 Din A4 Seiten weg. Selbstredend fehlten noch Unterlagen, die Sterbeurkunde zum Beispiel, die ich noch nicht hatte. Dann möchte die Versicherung sämtliche Krankengeldbezüge seit 1984 wissen. Und es gab eine Lücke, die sie nicht nachvollziehen konnte; 1997-2000, was hat unser Held in dieser Zeit getan. Dafür wollen sie Nachweise. Aufgrund der Jahreszahlen tippte ich darauf, dass unser Held in dieser Zeit sein Abi gemacht hat. Als ich am Sonntag im Schlafzimmer umherräumte, nahm ich mir auch das eine Regal vor. Ganz oben, auf einem Stapel lag Simons Zeugnismappe, das erste Zeugnis war sein Abi. Die Zahlen passten. Danke geliebter Held, für diesen Hinweis. Ich suchte nicht nach diesen Unterlagen, sie sind mir quasi in die Hände gefallen. Das kannst nur Du gewesen sein. Ich lieb Dich.
Das böse Wort mit W bringt nicht nur jede Menge gruselige Gefühle mit sich oder Gedanken an die haarige Spinne. Nein, hinter dem Wort Witwe warten viele Ratschläge und noch mehr Anträge die bearbeitet werden wollen. Simon verstarb an einem Freitag. 10 Minuten nachdem der Heldentod festgestellt worden war, fragte mich der Arzt ob ich eine Obduktion wünsche und ob ich mich bereits um ein Bestattungshaus gekümmert hatte.Ich starrte den Mann in Weiß nur fassungslos an und verstand nicht, was er eigentlich von mir wollte. Am Samstag telefonierte ich das erste Mal mit dem Bestattungshaus, welches mich am Montag bereits zu Hause besucht hat. Ich unterschrieb dass sie unseren Helden verbrennen dürfen. So wie ich erst wenige Tage zuvor unterschrieb, dass Simon in den Himmel fliegen darf. Darum macht es ebenfalls Sinn, auch bei völliger Gesundheit…eine beglaubigte Patienverfügung. Dann ist das Gewissen nach bestimmten Entscheidungen vielleicht etwas weniger bissig. Mein Gewissen aktzeptiert derzeitig noch nicht mal einen Maulkorb. Am Mittwoch wurde unser Held aus der Klinik abgeholt und ich konnte ihn ein letztes Mal zur Abschiedsnahme sehen.
Das Wort Witwe bedeutetet, dass die Welt plötzlich stehen bleibt. Ganz ruckartig, dass die Beine fast nachzugeben scheinen. Es knallt nahezu. Wie eine Vollbremsung mit dem Auto, wenn der Körper nach vorn geschleudert wird und der Sicherheitsgurt sich in den Körper schneidet. Als Witwe gibt es diesen Sicherheitsgurt nicht, es ruckt nur und der Körper wird geschleudert, mitten durch die Windschutzscheibe. Und trotzdem rollen die Räder plötzlich an. Viele Dingen müssen organisiert werden und das obwohl eigentlich gar nix funktioniert.
Aufgrund der Tatsache, dass von Simons Konto nun keine Gelder mehr abgehen können, trudeln hier immer weiter Rechnungen und Mahnungen ein. Das große Geschreibe, dass mein Mann verstorben ist und ich daher Verträge kündigen möchte (auch das geht erst jetzt mit der Sterbeurkunde…), fängt jetzt erst richtig an. Die Sache mit der Witwenrente bzw. Halbwaisenrente…das ist ne never ending Story. Die Bearbeitung läuft noch, ich hab noch nix gesehen.
Mein Hausarzt und meine Therapeutin halten mich aktuell für arbeitsunfähig, bezgl. Meines Jobs als Integrationserzieherin. Sie sagen, dass ich mir Zeit nehmen soll, dass alles normal ist und das letzte Jahr eine enorme Belastung für mich dargestellt hatte. Ich hingegen komme mir doof vor. Ich heiße wie eine schwarze, haarige Spinne und bekomme es nicht gebacken in der Kita zu arbeiten.
Die Heldenkinder und ich machen bereits Pläne, wie wir den Dezember meistern werden. Weihnachten, Silvester, der Heldengeburtstag und unser 10 jähriges Beziehungsjubiläum. Vor zehn Jahren lernten der Held und ich uns nämlich kennen.
Das böse Wort mit W ist scheiße, es hört sich nicht nur spooky an, es ist auch. Ich bin 34 Jahre alt. Ich sollte keine haarige Spinne sein.
Unsere Kinder sollte auch kein Wort mit W, mit sich tragen müssen. Das Wort (Halbwaise) ist noch mehr scheiße. Denn es bedeutet nun darauf zu hoffen, dass der andere Teil gesund bleibt. Es bedeutet Verlustängste und schlagartig größer zu sein, als es die Geburtsurkunde vermuten lässt. Unsere Kinder haben keine schwarzen Haare an den Beinen, Spinnenkinder einer Witwe sind sie aber trotzdem. Der kleine Batman bekommt erste Erinnerungslücken; er weiß nicht mehr genau welche Farbe Papas Augen hatten und ob er Sommersprossen im Gesicht besaß. Oft sieht sich unser Sohn dann Fotos an und weiß es wieder.
Auf unserem Tisch liegen Heldenverträge, die noch gekündigt werden wollen. Daneben sitzen die Heldenkinder und spielen mit Simons Star Wars Raumschiffen.Dieses Bild ist seltsam. Spinnen mögen unsere Minihelden im Übrigen auch nicht. Noch nie.
Die bösen Worte mit W sagen nicht, dass man nie wieder glücklich werden kann. Ich denke nämlich dass das klappen kann. Die bösen Worte mit W zeigen nur den Weg dorthin nicht, der ist irgendwo versteckt zwischen Wolken im Kopf, Klößen im Hals und den Bergen von Anträgen und Verträgen. Vermutlich sorgen die bösen Worte mit W dafür, dass wir hin und wieder ein paar Schritte zurück machen müssen, um dann den richtigen Abzweig zu nehmen.
Wenn das Schreiben von allein läuft, lass es laufen. Es könnte dein Weg sein, Platz im Kopf zu bekommen. Viel Kraft weiterhin 🍀
P.S. Ich finde übrigens deinen Vergleich, was das W angeht sehr passend. Ähnliche Bilder hatte ich dazu auch … 🤔 … Aber ich finde nicht, das du so aussiehst 🤞
Du brauchst dir alles andere als blöd vorkommen…wegen der Arbeit.Ich finde du gehst unwahrscheinlich stark mit der Situation um,unmenschlich stark.Vergiss dabei nicht das du trauerst und das allein braucht viel Zeit&Kraft.Es ist auch mutig sich einzugestehen das man nicht alles schafft.Du wirst arbeiten gehn wenn du merkst das du bereit bist,Lust hast…aber das kann viele Monate dauern.
Ich wünsche dir das du dich nicht verlierst in dieser Zeit,das schreiben dir weiterhin hilft und du die richtigen Abzweigungen in dem Irrgarten des Lebens findest.
Alles Gute für euch!
Ich habe im letzten Jahr eigentlich zu früh angefangen zu arbeiten- aber hinterher ist man ja immer schlauer.
Hier in Holland liefen die bürokratischen Vorgänge nach dem Tod meines Mannes geradezu erschreckend einfach ab. Es gab immer noch genügend zu regeln, aber Dinge wie Hinterbliebenenrente für mich und die Mädchen liefen sehr einfach ab. Ich hatte einige Kopien des Totenscheins gemacht, zur Sicherheit. Diese habe ich bis heute nicht benötigt, da hier solche Dinge direkt digital übermittelt wurden.
Aber es ist und bleibt Mist und mir geht es gerade eher schlechter als besser- der Tod meines Mannes liegt etwas mehr als ein Jahr zurück.
Ihr macht das super.
Danke für den Einblick. Auch wenn wir einiges schon geregelt haben (Bankenvollmacht, Patientenverfügung) habe ich hier Ideen gesammelt, wie wir uns … bzw. mir 🙁 … das Leben im Fall der Fälle (der hoffentlich noch laaaaaange auf sich warten lässt) erleichtern können.
Halt die Ohren steif!