Eigentlich; mein geliebter Held

Liebster Simon,

es ist jetzt Samstagabend. Es ist 20.29 Uhr und eigentlich wollte ich jetzt anfangen, über unser Wochenende zu schreiben. Eigentlich. In Echtzeit schiebe ich dies auf morgen.

Eigentlich war heute ein ganz schöner Tag, kalt aber schön. Eigentlich. Wir waren heute in einer Weltraumausstellung, eine Ewigkeit entfernt von unserem Zuhause. Die Heldenkinder wünschten es sich. Eigentlich hatten wir alle recht viel Spaß.

In Echtzeit gab es heute ständig Momente, die es mir schwer gemacht haben, zu lächeln. Es war ein ständiges Wechseln, und ich kann Dir nicht sagen warum.

In der Ausstellung heute gab es jede Menge kleine Workshops und Stationen, an denen die Kinder mitmachen konnten. Unser Sohn setzte sich wie selbstverständlich überall hin, sprach die Menschen dort an und sagte, dass er es auch versuchen möchte. Er war nicht schüchtern, er war nicht zurückhaltend. Der kleine Batman zeigte sich selbstbewusst. Das hättest Du sehen müssen! Es gab auch eine Stelle an denen die KInder Russisch schreiben konnten. Die Übungsleiter haben ihnen gezeigt wie es geht. Unsere Kinder sagten, was sie schreiben wollten. Dies hier schrieben beide.img_20181117_190341_9318168123785672622584.jpg

„ich liebe Dich Mama“

Die Leiterin meinte, dass die Minihelden dies nun auch mit dem Wort Papa schreiben könnten. Der kleine Heldensohn sagte, dass wir dies nicht brauchen. „Unsere Mama ist Papa und Mama in einem. Weil Papa gestorben ist. “

Mein lieber Schatz, mein geliebter Ehemann, ich merkte wie meine Füße hin und her wackelten. So wie immer, wenn ich nervös werde und mich unwohl fühle. Ich möchte nicht Mama UND Papa sein. Ich bin nicht Mama UND Papa. Ich werde nie Mama UND Papa sein.

Später waren wir dort auch auf dem Spielplatz. Unsere Kinder spielten ausgelassen. Ich sah ihnen zu. Es war schön, sie lachen zu sehen. Eigentlich. In Echtzeit fühlte ich mich nicht komplett. Ich stand da und mir war kalt. Meine Hände waren kalt, weil Deine gefehlt haben. Ich stand dort und sagte mir immer wieder, dass das alles so nicht richtig sein kann. Und irgendwie ist es doch richtig. Weil Du nicht mehr leiden musst. Weil unsere Kinder die Chance bekommen, aufzublühen, zu wachsen und ein Leben ohne Kunibert kennenlernen zu leben. Eigentlich ist das richtig. Eigentlich.

Vor ein paar Tagen habe ich in einem Auto gesessen. Die Ampel vor uns wurde rot, das Auto bremste. Nicht stark. Und trotzdem krallte ich mich an den Griff in der Autotür. Bei jeder Bremsung erinnerte ich mich daran, wie Du früher Deinen Arm vor meine Brust gelegt hast. Immer. An jeder Ampel. An jeder Baustelle. Immer wenn Du der Fahrer und ich der Beifahrer war. Du hast Deinen Arm dort hin gelegt, als würde ich sonst durch die Windschutzscheibe fliegen. Es war albern. Eigentlich. In Echtzeit vermisse ich dieses Sicherheitsgefühl, nicht nur im Auto. Alles scheint so unsicher zu sein im Moment, und ich weiß nicht, ob ich diese Sicherheit wiederfinde oder doch irgendwann durch diese Scheibe knalle.img_20181117_2019375771728563564137084.jpg

Heute fühlte es sich fast so an. Ich bin 34 Jahre alt, ich bin erwachsen, eigentlich nicht naiv oder sonderlich dumm. Ich bin kein „Heimchen“. Ich sagte Dir früher immer, dass ich eigentlich niemand bin, der beschützt werden möchte. Eigentlich. Denn jetzt vermisse ich das manchmal, weißt Du?

Zurück zu Hause habe ich unser Abendessen gekocht. Am Kühlschrank hängt noch immer Dein Eheversprechen an mich. Es hängt da, an zwei Magneten befestigt. Eigentlich wollte ich es schon längst weggelegt haben. Eigentlich. In Echtzeit bleibt es hängen.

Nebenbei suchte ich Briefmarken, um endlich einige Unterlagen zur Post bringen zu können. Ich fand sie nicht. Stattdessen einen Briefumschlag mit Flicken für die Schwimmhilfen. Mein lieber Schatz, das ist so typisch Du. Du hast alles aufgehoben, beschriftet und wusstest in der Regel immer, wo es war. Damit Du im Notfall schnell darauf zugreifen kannst. Immer wenn ich etwas Geschriebenes von Dir sehe, ist es so als wäre ein Stück von Dir konserviert. Ein kleines bisschen Simon.img_20181117_1943297624622512757814830.jpg

Ein anderes kleines Stück von Dir gibt es auch noch. Schau mal hier, kennst Du den noch? Als Du im Januar 2013 nach der ersten Chemowelle auf einer Reha warst, hast Du ihn genäht. Für mich. Du hast Dich geärgert, dass seine Beine unterschiedlich lang sind. Ich mochte das besonders. Speziell sind wir schließlich alle hier. Als Du ihn genäht hast, hast Du Dich erholt. Von Kunibert. Von der ersten Hochdosischemo und den anderen Chemotherapien zuvor. Alles war geschafft. Eigentlich.img_20181117_1958256752876957789070871.jpg

In drei Wochen ist es soweit. Anfang Dezember 2016 wurden dem kleinen Batman die Mandeln entfernt. Wir waren abwechselnd mit ihm im Krankenhaus. Einen Tag nach der OP kam auch die Gewissheit für uns. Kunibert war zurück. Stärker als das erste Mal. Wir glaubten, dass es trotzdem so „gut“ funktionieren wird wie 2012. Wir glaubten an den Erfolg der Therapien und der Stammzelltransplantation, die geplant war. Eigentlich.

In Echtzeit klappte das alles nicht. In Echtzeit bist Du plötzlich nicht mehr da. Kunibert ist nicht mehr da. Eigentlich.

Mein geliebter Held, meine Therapeutin sagt immer wieder, dass Trauer etwas Gutes ist. Trauern tut der, der geliebt hat. Und Liebe ist etwas tolles. Eigentlich. Liebe macht verwundbar. Liebe mach verletzlich und manchmal auch schwach. Ich will das alles nicht sein. Mach Dir keine Sorgen. Die Kinder meistern das alles ganz großartig. Und ich halte hier unten die Stellung, versprochen.

Nur Kunibert soll endlich verschwinden. Raus aus meinen Gedanken. Raus aus meinem Kopf. Raus aus unserem Leben. Es gibt wirklich gute Tage.. Ganz wirklich. Und dann gibt es Tage wie heute.

Auf dem Spielplatz, in der Ausstellung, überall waren sie: Väter. So viele Väter. Sie trugen ihre Kinder auf den Schultern, putzten ihnen die Nasen oder zupften die Mützen der Kinder zurecht. Es glich schon fast einer Invasion. Ich war noch nicht mal neidisch. Ich weiß gar nicht was ich war. Nicht komplett. Das trifft es vermutlich am besten.

Manchmal nervt mich diese Achterbahnfahrt. Ich glaube daran, dass es irgendwann besser wird. Ich weiß, dass Du immer ein Teil von uns sein wirst. Niemand wird und soll Dich je ersetzen. Aber trotzdem glaube ich daran, dass die Gedanken an Dich irgendwann positiver verknüpft sind.

Mein lieber Held, trotz dieser vielen Gedanken war es ein sonniger Tag. Das Thermometer zeigte Null Grad, von der Kälte sprach ich bereits. Und dennoch: lieber Simon, hab vielen Dank für die vielen Sonnenstrahlen, die Du uns heute geschickt hast. Vielleicht warst Du ja doch bei uns, irgendwie, irgendwo.

Rock den Himmel mein Held. Ich lieb Dich!

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