Augen auf

Jeden Morgen wache ich auch. Mal habe ich besser geschlafen, an anderen Tagen weniger gut. Aber ich wache auf. Ich kann barfuß ins Bad torkeln und dabei versuchen, nicht an allen Ecken anzustoßen, die unser Haus zu bieten hat. Ich kann barfuß laufen, weil der Fußboden unter mir warm ist. Ich kann barfuß laufen, weil das Dach über unseren Köpfen dafür sorgt, dass wir nicht frieren müssen. Ich kann barfuß laufen, weil die Heizung an ist.

Ich stehe im Bad, mache den Wasserhahn an und versuche, wach zu werden. Ich gehe duschen, das kann ich, weil wir eine Dusche haben. Das kann ich, weil wir warmes, fließendes Wasser haben.

Danach ziehe ich mich an, manchmal zwei dicke Pullis übereinander. Mir ist immer kalt, zurzeit besonders oft. Zum Glück gibt es in meinem Schrank diese Pullis.

Jetzt bereite ich das Frühstück für unsere Heldenkinder vor. Ich öffne den Kühlschrank. Mal ist er voll, mal etwas leerer. Aber drin ist immer etwas. Nebenbei kocht das Wasser für meinen ersten Kaffee und/oder meinen Tee. Ich kann das machen, weil aus den Steckdosen Strom kommt. 

Ich wecke die Minihelden. Wie immer haben sie nur wenig Lust aufzustehen. Am Wochenende hingegen stehen sie noch viel früher auf. Freiwillig. Warum ist das so? Schließlich stehen sie auf. Die Einhornbändigerin und ich diskutieren darüber, warum eine Leggings mit kurzem Röckchen und Sneakers bei Minusgraden nicht angemessen sind. Der kleine Batman und ich diskutieren darüber, wie unfair es ist, dass er nicht schon zum Frühstück Schokolade, Eis oder Burger essen kann. Ich bin genervt, ich bin gestresst. Weil es jeden Morgen die gleichen Themen sind. Hin und wieder flippt eines der Kinder dann aus.

Aber ich kann genervt sein, weil meine Kinder mit mir in diesem Haus wohnen. Ich kann mich über unnötige Diskussionen ärgern, weil es diese Diskussionen überhaupt gibt. Auch unsere Kinder wachen jeden Morgen auf, sie sind gesund und können essen bis sie satt sind, auch wenn es nicht immer ihren Geschmack trifft. Unsere Kinder sind da, sie erzählen mir von ihrer Welt, was sie einmal tun wollen, wenn sie erwachsen sind.  Ich kann am Morgen genervt sein, weil ich mir dessen bewusst bin, dass wir später wieder zusammen lachen und Pläne schmieden werden.

Auch ich tendiere dazu, Dinge zu sehen, die uns fehlen. Unser Held steht da ganz oben auf der Liste. Ich fürchte mich vor den kommenden Tagen und Wochen. Ich versuche besonders dann daran zu denken, wieviele Weihnachten und Geburtstage wir bereits zusammen verbringen durften. Als unser Held im Juli starb, waren wir 9,5 Jahre zusammen. Wir waren 1 Jahr und zwei Wochen verheiratet. 6 Jahre unserer Beziehung begleitete uns Kunibert. Und trotzdem verbrachten wir viele schöne und aufregende Momente. Es gibt Patienten mit einem multiplen Myelom, die wesentlich mehr Zeit geschenkt bekommen. Es gibt Patienten, die ihren Stammzellspender gefunden haben. Es gibt aber auch Patienten, die weniger qualitative Lebenszeit haben.

Ich verfolge im Internet andere Patienten mit Krebserkrankungen. Einige von ihnen liegen im Koma, werden dauerhaft über eine Trachialkanüle beatmet. Viele haben dauerhafte Schmerzen und sind nur noch ein Schein ihrer selbst. Einige werden die Klinik nicht mehr verlassen.

Unser Held hatte diese Phase zum Teil auch, allerdings verhältnismäßig kurz. Er musste nicht lange dauerbeatmet und mit Schmerzen ans Bett gefesselt sein Leben fristen. Unser Held lag 26 Stunden im Koma, nicht mehrere Wochen oder Monate. Er hat es geschafft. Er ist frei und muss nie wieder Angst haben. Die Monitore zeigten deutlich, dass er Stress hatte. Er hat seine Ruhe gefunden und konnte loslassen. Und das ist gut. Das wirklich gut. Wenn ich an das letzte Jahr denke…Ist es gut.

Die Kinder und ich haben so viele Erinnerungen sammeln können. Erinnerungen, die mit einer schweren Erkrankung im Gepäck nicht selbstverständlich sind.

Die Heldenkinder und ich sind gesund, wir haben warme Betten und ein Dach über unseren Köpfen.  Wir haben genug zu Essen und im Schrank liegen Handschuhe und dicke Mützen, so das niemand frieren muss. Wir haben uns. Jeden Tag können wir uns berühren und umarmen. Wir können streiten und uns wieder vertragen. Wir können gegenseitig voneinander genervt sein. Wir können das, weil wir alle noch da sind.

Auch wenn es im Moment nicht so einfach ist…Wir befinden uns in einer privilegierten Situation. Ihr müsst Euch nur mal umsehen.

Viele Dinge, die wir uns wünschen, sind im Moment nicht möglich. Der größte Wunsch ist gar nicht möglich. Und dennoch gibt es so viele Dinge, die so gewöhnlich sind, dass wir sie fast übersehen. Dinge, die viel mehr wertgeschätzt werden sollten.

Besondere Wertschätzung sollte die Tatsache bekommen, dass wir  jeden Morgen aufwachen. Dass wir gesund sind. Dass wir keine Angst haben müssen, morgen nicht mehr aufzuwachen. Ihr Lieben, das ist alles andere als selbstverständlich. Das ist Luxus. Das ist wirklich Luxus, den nicht jeder Mensch genießen darf.

Es ist einfacher, sich über Dinge zu ärgern, die man selbst nicht hat. Das finde ich auch. Ich mache das auch.  Das ist auch gar nicht schlimm. Schlimm wird es dann, wenn die eigenen Augen gar nicht mehr erkennen können, welche Dinge man hat. Welche Schätze darunter sind. Welch wertvolle Dinge das sein können.

Ihr Lieben, hin und wieder tut es gut, seine Augen zu öffnen. Hin und wieder tut es gut, sein Herz zu öffnen und sich auch darüber zu freuen, was bereits alles da ist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es bei jedem von Euch eine Menge sein wird.

5 Gedanken zu „Augen auf

  1. Liebe Ines, Deine Worte berühren mich sehr. Durch Dich kann ich die Trauer meiner Tochter und ihrer Kinder noch besser verstehen, die vor fast fünf Jahren völlig unerwartet Abschied von Mann und Vater nehmen mussten. Meine Tochter hat damals viel zu früh wieder angefangen zu arbeiten und ist dann Monate später nach der Schuleinführung ihres Dritten völlig zusammengeklappt. Nimm Dir wirklich alle Zeit, die Du brauchst, denn die vergangenen Jahre haben Dich immens viel Kraft gekostet. Meine Tochter hat erst nach 2 1/2 Jahren den Weg zum Neurologen gefunden, der ihr ein leichtes Antideprissivumverordnet hat. Das hat ihr sehr geholfen. Seit etwa einem Jahr ist sie endlich zurück im Leben. Aus Deinen Beiträgen klingt heraus, dass es Euch finanziell nicht so gut geht. Vielleicht kann ich Dir da Hinweise geben, was Du so alles beantragen kannst. Gerne auch per Email. Ich wünsche Dir viel Kraft und auch Freude für Dich und Deine Kinder. Liebe Grüße Hedwig

  2. Super geschrieben. So viele Menschen, die ich meckern und jammern höre, sollten sich diesen Text mal ernsthaft durchlesen. Trotz allem geht es uns gut. Und super von Dir, denn der Text zeigt,Dein Horizont ist nicht auf einen Tunnel der Trauer geschrumpft. Du siehst noch die guten Dinge in Deinem Leben, auch wenn manches banal erscheint, wie ein warmes Badezimmer…
    Irgendwer hat mal gesagt: “ Wie glücklich könnte jeder sein mit dem Glück, das er nicht achtet“. Lieber Gruß, Sabine

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