Unser 2018

Dieses Jahr war ein recht anstrengendes und gleichzeitig recht emotionales Jahr für uns.

Man könnte nun meinen, dass das Jahr 2018 einfach nur schrecklich für uns gewesen ist. Das war es aber nicht, und ich glaube, dass eine Aussage wie diese zu stark in eine Richtung tendieren würde.

2018 war sehr lehrreich für uns. Dieses Jahr hat uns gezeigt, wo unsere Grenzen liegen, und dass es manchmal sinnvoll sein kann, diese auch wahr- und ernst zu nehmen. Dieses Jahr brachte mir bei, Abschied zu nehmen. Es zwang mich, Entscheidungen zu treffen, die ich nie treffen wollte. Es zeigte uns, dass ein Leben danach möglich sein kann. 2018 nahm uns Simon. Es nahm uns aber auch die Angst davor, diesen Verlust erleben zu müssen. Dieses Jahr brachte uns bei, immer wieder aufzustehen, egal was auch passieren wird.

2018 habe ich gelernt, wie man spontan in wilden Geschichten mitspielt und dabei eigene Emotionen wegdrückt. Ich lernte, dass es nicht immer sinvoll ist, eigene Bedürfnisse hinter die eines erkrankten Lieblingsmenschen zu stellen.

Ich lernte aber auch, dass das anonyme Internet gar nicht so anonym ist, wie es scheint. Im Frühling setzte sich eine Welle der Hilfsbereitschaft in Bewegung, von der wir nie glaubten, dass es etwas dergleichen geben kann. Eine Hilfsbereitschaft von Menschen, von denen wir die meisten im „echten Leben“ gar nicht kennen. Ich lernte Dankbarkeit. Dankbarkeit für Hilfe. Dankbarkeit für Schnarchgeräusche in der Nacht. Dankbarkeit, auch für einen verwirrten Helden, der mitten in der Nacht glaubte, dass er in einem Raumschiff sitzt und zum Mond fliegt.

2018 wurde die Einhornbändigerin 10 Jahre alt. Sie rundete das erste Mal und erlebte den schönsten Geburtstag aller Zeiten. Wir durften im Fernsehturm brunchen und mit einer riesigen Limo fahren. Das waren Dinge, die sie sich seit einer Ewigkeit gewünscht hatte. Das waren Dinge, die nicht selbstverständlich waren. Es waren Dinge, die uns Erinnerungen sammeln ließen. Simon konnte nämlich auch dabei sein. Er war bereits wackelig auf den Beinen, das Heldenhirn erzählte ihm bereits Dinge, die nicht ganz der Realität entsprachen. Aber er war dabei. Das war so, so großartig.

An beiden Geburtstagen der Heldenkinder erreichten uns so viele Karten, Briefe, Luftballons und sogar ein paar Päckchen. Gefühlt war die ganze Wohnung voll. Ihr alle habt damit Dinge geschaffen, die einfach wundervoll waren. Dinge von denen unsere Heldenkinder noch heute zehren.

Im Urlaub waren wir dieses Jahr nicht. Wir mussten alles absagen. Stattdessen besorgten wir einen Pool. Wir hatten plötzlich Schaukelstühle im Garten und Einhörner zum Aufpusten. Es war keine Insel in der Südsee, aber es war unser ganz eigenes, kleines Paradies.

Trotz einer sich immer weiter zuspitzenden Situation hatten wir bis zum 6. Juli nie das Gefühl, auf etwas verzichten zu müssen.

Ab Mitte des Jahres änderte sich alles erneut.

4.7.2018 um 22.56 Uhr sprach ich ein letztes Mal mit unserem Helden. Der Arzt der Intensivstation hatte mich angerufen, mir die Situation erklärt und gesagt dass mein Mann mit mir sprechen wollte. Simon sollte notintubiert werden, er verweigerte dies und wollte stattdessen von mir hören, dass das alles so in Ordnung sei. Er hatte vergessen, dass er Kinder hat oder dass wir verheiratet waren. 5 Tage vor seinem Sieg über Kunibert waren wir noch im Klinikpark, samt Sauerstoff und Rollstuhl. Aber wir waren draußen. Er fragte mich, ob ich ihn heiraten möchte, ob mein geklauter Ferrari wieder aufgetaucht sei und dass das hier alles eine Freakshow ist. Er brachte vieles durcheinander. Er hatte vieles vergessen. Aber an diesem Tag ließ er mich anrufen, nur damit ich ihm sage, dass das alles richtig ist. Ich war dankbar. Dankbar dafür, mich verabschieden zu können. Es war ein Privileg, für das ich unserem Helden für immer dankbar sein werde.

12 Stunden später entschied ich, dass er gehen darf. Ich entschied, dass er sich endlich ausruhen darf. Ich unterschrieb, dass ich eine geplante OP ablehne und nicht möchte, dass er die letzten Wochen seines Lebens beatmet, mit Wahnvorstellungen und Schmerzen im Bett liegend verbringen sollte.

2018 lernte ich, dass Bestatter keine buckligen Menschen sind, die absolut abgeklärt und stupide durch die Welt laufen. Stattdessen hatten sie Zauberhände und sorgten dafür, dass ich mich 5 Tage nach Simons Tod erneut von ihm verabschieden konnte. Er lag friedlich in seinem letzten Bett, wir konnten ihm Dinge für seine Reise mitgeben. Er trug seine Lieblingsklamotten und nicht mehr dieses furchtbare Krankenhaushemd.

Der kleine Batman und ich malten seinen Sargdeckel an. Simons Geheimversteck. Unser Sohn lief unbefangen um diesen Deckel. Leo freute sich, seinem Papa dieses Geschenk machen zu können. Ich war dankbar. Wir waren dankbar für diese Möglichkeit.

Ich lernte, was das Wort Kondolenz bedeutet.

2018 lernten die Minihelden und ich, wie ein Leben ohne Kunibert aussehen kann. Unsere Kinder bekommen eine Chance auf ein Leben ohne Berge von Medikamenten im Haus. Sie müssen lernen, mit dem Verlust zu leben. Dafür aber lernen sie jetzt ein Leben ohne die ständige Angst vor dem Tod kennen.

Ich bin dankbar für die letzten 6 Jahre, die wir trotz Kunibert zusammen erleben durften. Ich bin auch dankbar für die letzten Monate mit Simon und seinem Mitbewohner, auch wenn diese von mir einiges abverlangt haben.

Besonders dankbar bin ich für die Möglichkeit, einen von Simons letzten Wünschen umzusetzen, die Sache mit dem Buch.

Im April 2018 schafften wir durch die Ebay Auktion Aktion noch einmal große Aufmerksamkeit für das Thema Stammzellspende. Unglaublich, wie viele Firmen und wie viele auch von Euch sich daran beteiligt haben. Simon wollte einer Erkrankung ein Gesicht geben. Er glaubte, dass es den Menschen leichter fällt, sich als potenzielle Stammzellspender zu registrieren, wenn es zu dem Wort „Blutkrebs“ auch eine Geschichte, ein Leben und eine Familie gibt. Das wollte er auch dann, als klar war, dass es für ihn nicht mehr reichen wird. Die vielen Mails von Euch, die vielen neuen Registrierungen, die mindestens 9 Helden unter Euch, die aufgrund Simons Geschichte tatsächlich auch zum Stammzellspender wurden, gaben unserem Helden recht. Darum wird es diesen Blog auch weiterhin geben. Darum hören wir nicht auf. Auch wenn sich unser Blog etwas verändert hat, die Hauptintention bleibt die gleiche.

2018 war schwierig. 2018 war emotional. 2018 war das anstrengendste Jahr, welches die Heldenkinder und ich je erlebt haben. Aber…2018 öffnete auch viele neue Türen für uns. Wir müssen nun nur noch den Mut finden, diese auch zu nutzen. 2018 ist trotz allem ein Jahr voller Dankbarkeit. Unsere Bucket List konnten wir nicht mehr abarbeiten, aber ich werde versuchen, dies im nächsten Jahr fortzusetzen. Mit einem Foto vom Helden und jeder Menge Luftballons im Gepäck.

Unser Held hat uns zu den Menschen gemacht, die wir sind. Er hat uns stark gemacht, auch wenn wir das hin und wieder vergessen. Er ist unser Held. Er bleibt unser Held, und ich bin dankbar, dass er in Würde gehen durfte. Ich bin dankbar, dass er nie wieder eine Klinik von innen sehen muss.

Dass ihm nicht mehr übel von den vielen Medikamenten sein wird. Ich freue mich für Simon, dass er seinen Frieden gefunden hat und nun endlich keine Angst mehr haben muss.

Ich bin froh, dass dieses Jahr vorbei ist. Aber es war nicht durchgehend schlecht. Es forderte und lehrte uns. Es machte uns an vielen Tagen hilflos. Aber es gab auch jede Menge Momente, die ich nicht vergessen möchte.

4 Gedanken zu „Unser 2018

  1. Ich wünsche Euch ein gutes Jahr. Ein Jahr mit vielen Glücksmomenten und, dass die Trauer erträglich für Euch ist. Ich wünche Euch ein Jahr voller Zuversicht und ganz viel Kraft in traurigen Momenten. Alles Liebe für 2019.

  2. So eine wundervoll geschriebene Rückschau auf das vergangene Jahr ❤Ines du bist der Wahnsinn ❤Ich wünsche euch ein großartiges neues Jahr und freue mich auf weitere Geschichten und euch so ein Weilchen weiter zu begleiten❤Ich bin gespannt auf Euer Buch ❤Liebe Ines fühl dich gedrückt❤

  3. Liebe Ines,
    mit diesem Text zeigst Du wieder, was für ein wundervoller Mensch Du bist.
    Ein Mensch mit einer positiven Einstellung,selbst nach so einem einschneidendem Erlebnis.
    Du gibst anderen Kraft und Mut,das es weiter geht.Auch wenn man eine Zeit lang einfach nur atmet.
    Ich wünsche Dir und den Heldenkindern ein gesundes neues Jahr mit vielen schönen Erlebnissen.
    Auch ich schicke Dir eine Umarmung😘

  4. Dieser Text ist wundervoll. Er lehrt mich Demut und die Fähigkeit, Dinge von verschiedenen Perspektiven zu erkennen.

    Ich wünsche euch ein Jahr 2019 voller Glück, toller Erlebnisse, Möglichkeiten zum Kraft tanken und neue Erinnerungen zu erschaffen.

    Danke dass Du mich durch den Blog lässt teilhaben!

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