Ich bin sauer

In der letzten Zeit habe ich wieder vermehrt Bilder in meinem Kopf, Bilder, die ich nicht haben will. Bilder von denen ich dachte, dass sie mittlerweile okay für mich sind. Ich spüre meine Erschöpfung wieder öfter und würde hin und wieder einfach gern im Bett liegen bleiben.Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Trauer in Wellen kommt. Dem scheint so zu sein.

In den letzten Wochen träume ich vermehrt von Simon, davon dass wir uns streiten und er mich verlässt, weil es mit dem Vertragen nicht so klappen wollte. Ich denke an den Moment, in dem ich in der Klinik vor dem Oberarzt sitze und sage, dass ich nicht möchte, dass Simon ein Drainagesystem in die Brust implantiert bekommt. Dann erinnere ich mich daran, dass ich die Heldenschwägerin anrufe und ihr sage: „ich glaube, ich bringe grade Simon um“, weil ich die Behandlung hab einstellen lassen.

Das konnte ich machen, weil mir Simon einige Wochen zuvor seine Gesundheitsfürsorge übertragen hatte. Er tat es in einer Situation, in dem ein Neurologe ihm bestätigte, dass er in diesem Moment bei Sinnen war. Er hat es einfach so gemacht, ohne Absprache mit mir. Ich wollte das nicht haben. Hätte ich abgelehnt, wäre wenige Tage später ein gerichtlicher Betreuer bestellt worden. Das wollte ich selbstredend auch nicht.

Das Hirn von unserem Helden schwächelte bereits eine ganze Weile, so dass ich mehr Pflegekraft als Ehefrau gewesen bin. Das war okay. Ich liebte ja. Am 23.6.2018, einen Tag vor unserem ersten richtigen Hochzeitstag, schaltete der Kopf von Simon gänzlich ab und ich unterhielt mich meistens nur noch mit Kunibert. Und dann trat ich auf den Plan, ich und die Gesundheitsfürsorge. Ich und die Vorsorgevollmacht. Plötzlich musste ich alles unterschreiben, entscheiden ob unser Held über den Port ernährt werden soll oder nicht. Entscheiden ob er nun Chemo A bekommt oder Antikörper B und Schmerzmittel C.

Nachts rief mich entweder unser Held alle 30 Minuten an, und als er es nicht mehr konnte, tat es die Klinik, mit der Bitte, meinen Mann zu beruhigen.

In der Klinik wurde ich oft begrüßt mit den Worten „Da Sie die Gesundheitsfürsorge für ihren Mann haben, müssten sie noch unterschreiben ob….“ usw.

Am 4.7.2018 rief mich spät abends die Klinik an, ob ich einer Intubation und somit dem künstlichen Koma zustimme. Zusätzlich wollte Simon mit mir sprechen, das waren unsere letzten Worte.

Am 5.7. unterschrieb ich zwei Mal, dass ich wünsche, dass die Behandlung eingestellt werden soll. Ich tat dies, weil es trotz geplanter OP keine Aussicht auf Besserung gegeben hatte. Ich tat dies, weil es keine f***ing Patientenverfügung gegeben hatte, bzw. weil die unausgefüllt noch immer in unserem Schrank liegt. Die Annahme, dass statt mir einfach der nächste nahe Verwandte die Gesundheitsfürsorge bekommt, ging leider nicht auf.

Ich bin sauer. Auf Simon. Und das tut mir Leid, weil ich nicht sauer sein will. Aber ich bin sauer. Weil ich diese Entscheidung treffen musste. Wir haben im Vorfeld darüber geredet, was er möchte und was nicht. Ich wusste daher genau, was er sich gewünscht hätte. Ich habe von niemandem gehört, dass es eine falsche Entscheidung war. Auch die Ärzte befürworteten diese Entscheidung im Nachgang, weil ich für unseren Helden entschieden habe und nicht für mich.

Und trotzdem. Mir ist es egal, was die alle sagen. Denn entschieden habe ich. Nur ich. Es saßen bereits einige Freunde und Verwandte im Wartezimmer der Intensivstation. Ich hatte sie alle angerufen, damit sie sich verabschieden konnten. Noch durfte aber niemand zu ihm. Stattdessen kam die Psychoonkologin mit 2 weiteren Gläser Wasser für mich an. Im Schlepptau die Chefärztin. Ich musste meine Entscheidung ein zweites Mal bestätigen, schriftlich. Also ging ich mit. Nur ich. Denn ich sollte nicht beeinflusst werden. Während die anderen im Wartezimmer verweilen mussten, folgte ich der Ärztin und fühlte mich wie ein Henker, der kurz vor der Vollstreckung des Todesurteils steht.

Kognitiv weiß ich, dass dem nicht so war. Aber ich musste unterschreiben Und darum bin ich sauer. Diese Entscheidung klebt an mir wie ein riesiger Teerfleck. Ich bekomme ihn nicht abgewaschen, auch wenn ich ewig unter der Dusche stehe. Er bleibt. Ich fühle mich schuldig. Und das macht mich sauer. Ich bin sauer, weil ich sauer bin. Ich bin wütend, weil ich deswegen manchmal wütend auf Simon bin und meine Emotionen nicht im Griff habe.

Ich bin wütend, dass unser Held zuvor keinen Pflegedienst in unser Haus gelassen hat. Ich bin wütend, dass er niemandem davon erzählen wollte, dass er nur mich als Pflegekraft wollte. Ich bin wütend, dass er sich gewünscht hat, dass wir niemandem davon erzählen, dass Kunibert langsam aber sicher sein Hirn in Beschlag genommen hat. Dass er bereits zu Hause hin und wieder vergessen hatte, dass er Kinder hat, dass der Herd an ist und dass ich ständig Panik hatte, dass er in einer Wahnvorstellung das Haus verlässt und den Weg zurück nicht findet. Ich bin wütend, dass ich niemandem davon erzählen konnte, woher der blaue Fleck in meinem Gesicht kam, weil Simon nachts um sich schlug.

Ich bin sauer und unfassbar wütend, dass ich all das zugelassen habe, obwohl ich doch genau wusste, dass er die Situation gar nicht mehr einschätzen konnte. Ich bin wütend auf mich, manchmal so sehr, dass ich schreien könnte. Weil ich es einfach zugelassen habe. Weil ich die Notbremse nicht viel früher gezogen habe. Ich bin sauer, dass ich nicht einfach nur eine Ehefrau sein konnte, anstatt eine Krankenschwester, die Dinge tun musste, von der sie so gar keine Ahnung hatte. Ich will keine Lagerungstechniken kennen oder wie man einen Port oder Spritzen bedient. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, einfach nur verheiratet zu sein.

Manchmal bin ich einfach sauer.

7 Gedanken zu „Ich bin sauer

  1. Seit einiger Zeit verfolge i h mit großem Interesse ihre Zeilen. Auch mein Mann hat Krebs, Lymphdrüsenkrebs, T-Zell-Lymphom.
    Wenig Überlebenschancen. Im Oktober an meinem Geburtstag festgestellt. Bisher half keine Chemo, obwohl immer neue probiert
    Mein Mann ist zwar 63, aber auch viel zu jung.
    Es ist mein 2. Mann, und ich frage mich, wie ich die Zeit durchstehen kann. Ich frage mich, wie Sie das schaffen konnten. Ich bewundere das, was sie tun und wie sie die Welt sehen.
    Ich hab Angst vor dem Zusehen, so dicht dran sein. Das hätte ich schon bei meiner Oma, auch Vater und Mutter sind an Krebs gestorben, mein Halbbruder jung verstorben die Familie von beiden Elternteilen nicht Kontaktwürdig- ganz schlimme Vorfälle.
    Auch die Familie meines 1. Mannes war sozusagen mit seiner Trennung von mir weg.
    Ich habe furchtbare Angst schon wieder allein zu sein.
    Und dann lese ich, wie es auch gehen kann.
    Wie sie sich durchkämpfen und hoffe, ein wenig davon zu lernen.
    Ich finde, sie haben daß so großartig bisher gemeistert Schön daß sie das so gut ausdrücken können.

    Ich wollte das mal loswerden.
    Überlege auch eine Aktion zu abmachen, um mehr Menschen zum typisieren zu bringen.
    Hab die DKMS schon angeschrieben.

    Ich freue mich auf ihre Texte, auch wenn sie mich auch oft ins Herz treffen. Aber das ist ok.

    Herzliche Grüsse
    Kristina

  2. Liebe Ines!
    Keine Bange, Trauer in Wellen ist normal. Geh einfach in kleinen Schritten weiter, Du machst alles richtig. Mein Mann ist dieses Jahr seit fast 13 Jahren tot, mein Kind inzwischen ein Teenie und die Wellen kommen immer noch. Selten, aber sie kommen.
    Das mit der Wut kenne ich auch. Wie oft war ich wütend, einfach nur wütend. Auf ihn, auf die Situation, auf die Welt. Oft war ich wütend, wenn mir die Kraft ausging, dann hat mich die Wut ein paar Meter weiter getragen und dann ging es oft wieder. So klingst Du auch ein bisschen. Nimm die Wut als Motor und geh weiter. Es ist so anstrengend. Viel Kraft!
    Lieben Gruss
    Susanne

  3. Schrei…so laut du kannst….❤Und dann atme tief ein und aus❤❤
    Du darfst sauer sein…auf alles…auf jeden….🎈🎈
    Denn im inneren…ganz tief drin weißt du das alles so kommen musste wie es kam und das Simon dir immer und mit voller Absicht am Schluß sein Leben anvertraut hat.
    Denn du warst die Frau der er mehr als jedem anderen vertraut hat ❤❤Er hat dich soooooo sehr geliebt….das sieht und spürt man in jeder gemeinsamen Aufnahme von euch❤

    Ines….schrei so laut du kannst….Alles muss raus ….und dann rockst du weiter💪Für dich. ..für eure Kinder …und für Simon🎈🎈🎈
    Hey…..DU BIST SPITZE❤❤❤❤

  4. Liebe Ines, auch die Wut gehört zur Trauer. Das habe ich bei meiner Tochter sehr genau verfolgt. Sei wütend, das steht Dir zu! Irgendwann ebbt auch dieses Gefühl ab. Es werden noch viele Wellen auf Dich zukommen, nimm sie einfach an und nimm Dir vor allem alle Zeit für Deine Trauer, die Du brauchst. Lass Dich nicht unter Druck setzen, nicht von der Krankenkasse und nicht vom Arbeitgeber, falls der noch vorhanden ist. Geh weiter DeinenWeg, das machst Du ganz toll! Ganz liebe Grüße an Dich

  5. Das verstehe ich gut. So harte Entscheidungen, so viel Verantwortung und so viele ungelebte Träume und Hoffnungen. Das macht auch wütend und ist sehr ungerecht. Niemand sollte gezwungen sein solche Entscheidungen zu treffen und ein Liebespaar sollte in jedem Fall die Möglichkeit haben ein gutes Stück der erträumten Zukunft auch leben zu dürfen.
    Deshalb hast Du jedes Recht auf diese Wut, denn soviel Ungerechtigkeit ertragen zu müssen ist extrem hart. Es ist sehr gut, dass Du wütend werden kannst, denn leider gehört diese Wut oder das „sauer sein“ auch zum Trauerprozeß und zum Abschied nehmen. Du hast Dich so lange so sehr zurückgenommen, jetzt bricht es massiv durch. Das ist eine sehr gesunde Reaktion. Ich drücke Dich!

  6. Liebe Ines,
    ich kann Deine Wut gut nachvollziehen. War und bin immer mal wieder Pflegerin statt Ehefrau. Und die Art und Weise, wie Krankheit die Regie in Beziehungen übernimmt scheint da wohl einem Muster zu folgen. Und offenbar gibt es Uneinsichtigkeit nicht nur, wenn ein Kunibert Macht über das Hirn hat. Diese Wut, die das Verhalten, die Entscheidungen, Ausflüchte und Vermeidung meines Mannes während seiner Schübe in mir auslöste, trug ich lange in mir. Und ich halte diese, deine Wut für berechtigt. Wir konnten mit Hilfe einen Weg finden. Dir wünsche ich von Herzen, dass dieses Sch…Gefühl nur ein kurzer enger Pfad auf deinem Weg zum Besserfühlen und Gutklarkommen
    mit dem was war, ist und sein wird, ist, der gegangen werden muss. Herzlich… Sandra

  7. Liebe Ines!
    Lass die Wut raus. Diese Schuld an etwas klebt an einem aber du weißt ganz genau das das die beste Entscheidung gewesen ist. So konnte Simon frei sein. Trauer ist endlos. Trauer kommt in Wellen. Irgendwie lebt man mit dem Schmerz. Lernt damit umzugehen. Aber ganz weg geht es nie.
    Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft das auszuhalten und wenn es nicht mehr geht, dann rede darüber mit Freunden oder Verwandten oder Therapeuten. Sie werden dir auch sagen das deine Entscheidung die richtige war. So konnte Simon raus aus seinem Körper den Kunibert beschlagt hatte. Wenn man an Gott glaubt, dann weiß man das Simon im Himmel jetzt frei von Schmerzen leben kann…ich drück dich.
    Liebe Grüße aus Wien

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