Dann reiß Dich halt zusammen

Es ist gerade Sonntagabend und ich wollte anfangen, Euch von unserem Wochenende zu erzählen. Ich wollte Euch vom Grillen mit den Nachbarn erzählen und davon, dass ich gerade einen kinderfreien Abend habe.

Aber irgendwie geht das gerade nicht. Stattdessen bin ich gefangen in meinem Selbst, in einem Körper, der mir manchmal nicht gehorchen möchte und mit einem Hirn, das im Moment recht vernebelt ist.

Ich kenne das schon. Ich kannte es bereits lange vor Kunibert. Und auch lange vor Simon.

Mit 16 bin ich nach Berlin gezogen. Unter anderem auch, weil ich ein stark pubertäres Wesen hatte. Aber auch, weil ich fort wollte. Sexueller Missbrauch, der sich über ein paar Jahre immer mal wieder hinzog. Gesagt hatte ich nie etwas. ( mein Vater und mein Bruder und selbstverständlich auch meine Mutter sind liebe Wesen, bitte keine Spekulationen). Ich habe nicht geredet, sondern wurde einfach seltsam. Ich ging nicht mehr raus, wurde dick und zeigte irgendwann autoaggressives Verhalten. Meine Eltern schleppten mich zu einer Psychologin, die Klinik in der ich behandelt worden bin, tat das Selbige. Ich aber schwieg.

Mit 16 kam ich mit Hilfe des Jugendamtes nach Berlin. Zuerst in ein betreutes Wohnen, mit 17 in ein anderes. Eine Einrichtung für die „schwierigen Fälle“, die die nicht kooperieren wollten. Ich schwieg immer noch und schrieb mein erstes Buch. Ein Abschiedsbuch. Ich plante auszusteigen, weil ich mit mir und der Welt überfordert war. Ich wusste genau, wie ich aussteigen wollte, ich wusste warum und wann. Ich traf Vorkehrungen und schrieb in diesem Buch, warum ich die Notbremse ziehen möchte. Das Buch habe ich fertig geschrieben, handschriftlich. Es war ein DIN A5 Notizbuch mit rotem Einband.

Da ich gerade in der Lage bin, Euch meinen Seelenstrip hinzulegen, ist klar, dass das Austeigen nicht geklappt hat. Stattdessen fand ich mich auf der Intensivstation wieder. Einige Tage verbrachte ich dort, irgendwann auch wieder orientiert. Ich hasste alle und versank gleichzeitig vor Scham. Mein Buch wurde gefunden und gelesen. Jeder wusste Bescheid und ich hatte meinen Eltern einen Schrecken eingejagt, den sie so vermutlich nie wieder vergessen werden.

Es folgten viele Wochen stationäre Therapie. Danach einige Jahre eine ambulante. Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung und schwere Depressionen. Mir war das alles peinlich, und dennoch war ich froh, dass mein Schweigen ein Ende hatte. Ich war froh, dass „dieses seltsame Gefühl“ in meinem Kopf einen Namen hatte.

Mit 18 zog ich in meine eigene Wohnung. Es lief. Nach einigen Auf und Abs blieb ich stabil. Die Therapie half, ich konnte Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und lernte das Wort Vertrauen kennen.

Die Jahre vergingen, ich hatte Freunde, erlebte meine erste große Liebe. Das Monster in meinem Kopf schien vergessen. Ich machte Abitur und studierte. Ich wurde schwanger. Willkommen kleine Einhornbändigerin! Die Tatsache, dass ich alleinerziehend wurde, machte es nicht weniger schön.

Wenige Monate später lernten wir Simon kennen, und ich hatte am Anfang bedenken, wie ich ihm bloß von meiner Vergangenheit erzählen sollte. Auch wenn das Monster in meinem Kopf verschwunden schien, die Narben auf meinen Armen würden mich verraten. Unser Held zeigte sich kurz verwundert, störte sich aber nicht an den Überbleibseln an meinen Armen.

Ende 2010 wurde ich wieder Schwanger. Im folgenden Februar die Fehlgeburt. Kurz meldete sich das Monster in meinem Kopf, aber es blieb nur ganz leise. Anfang 2012 wusste ich erneut, dass ich schwanger bin, einige Monate danach zog auch Krabbe Kunibert bei uns ein. Was dann geschah, wisst Ihr bereits.

Jetzt ist das Monster in meinem Kopf wieder da. Grau, im Nebel versteckt und dafür sorgend, dass ich mich manchmal kaum vom Fleck bewegen kann. Aber etwas ist anders. Ich möchte nicht aussteigen, weil ich es jetzt einfach besser weiß. Ich weiß, wofür es sich lohnt, in diesem Karussell sitzen zu bleiben. Ich bin hier, ich atme und möchte auch,,dass das so bleibt. Und dennoch, meine gefühlte gesamte Energie geht im Moment in den Alltag mit und für die Heldenkinder. Für mehr reicht es manchmal nicht. Ich hörte Sätze wie „Ich hab das Gefühl, Du warst schon mal okayer“.

Ja, das dachte ich auch. Ich hatte einige Zeit lang das Gefühl, dass es auch mit dem Nebel in meinem Kopf endlich besser wird. Und im Grunde tut es das auch, nur nicht immer. Nicht jeden Tag.

Depressionen sind nicht alle gleich. Die, die wir diese Diagnose haben, stehen nicht jeden Tag heulend an der Schwelle. Viele Patienten wollen leben, sie haben nur manchmal mit dem Tempo der Welt Probleme. Depressionen haben oft einen Auslöser und auch eine pathologische, also körperliche Seite. Bezogen auf mich… Es ist eine Art Stoffwechselproblem im Hirn, mein Serotoninspiegel (das „Glückshormon“) ist leer. Aufgebraucht in den letzten Jahrzehnten. Es sind nicht Simon oder Kunibert, die mich in diese Situation gebracht haben. Es ist mein Kopf, mein Hormonhaushalt. Meine Psyche, die mich in den letzten Jahren immer hat Aufrecht gehen lassen, mein Hormonspeicher, der mein Hirn mit ausreichend Serotonin versorgt hat, damit ich niemals aufgebe. Jetzt ist dieser Speicher leer und ich brauche medikamentöse Unterstützung, damit sich dieser wieder auffüllt.

Heute habe ich kinderfrei und war eigentlich verabredet. Ich habe abgesagt. Ich merke, dass der Antrieb erneut deutlich fehlt. Ich schaffe es nicht, mich regelmäßig bei Freunden zu melden oder Termine auszumachen. Ich versuche, unser Haus einigermaßen ordentlich zu halten, spiele mit den Kids, koche und gehe mit den Minihelden zu Ausflügen. Wir kuscheln und sagen uns, dass wir uns lieb haben. Wenn ich mich nicht gleich melde, hat das nichts mit Euch zu tun, im Moment dauert alles etwas länger. Ich bemerke diese Warnsignale, daher wird die Medikation angepasst.

Morgen kann das schon wieder ganz anders aussehen. Aber manchmal hilft es mir, mich einfach nur zu vergraben, den Tag mit Taschentüchern, Jammermusik und Kopfhörern auf dem Sofa zu verbringen. Ich bade dann einmal richtig im Selbstmitleid, muss mich nicht zusammenreißen oder mich vor den Spiegel stellen und mir selbst sagen, was alles ganz gut läuft. Es sind Momente, in denen ich mich einsam fühle und gleichzeitig froh darüber bin, für niemanden verantwortlich zu sein. Ich glaube ja, dass ein Bad in jeder menge Selbstmitleid ab und an ganz hilfreich ist, weil es die einzige Möglichkeit zu sein scheint, alles einmal rauszulassen, die Welt zu verfluchen und alles so richtig scheiße zu finden. Mir hilft das. Darum ist mein Date für heute das Sofa.

Aber warum schreibe ich Euch das alles? Seitdem ich öffentlich zugestanden habe, mir therapeutische und medikamentöse Hilfe geholt zu haben, erreichten mich einige Nachrichten von Betroffenen mit Depressionen, Burn Out oder auch einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Sie schrieben mir, dass diese Erkrankungen nach wie vor oft belächelt und nicht ernstgenommen werden. „Reiß Dich zusammen“, „Guck doch einfach nach vorn“, „Das Leben geht weiter“ und ähnliches sind Sätze, die sie oft hören. Darum tun viele Patienten das, was ich früher tat: Schweigen. Sie holen sich keine Hilfe und das gipfelt dann nicht selten in dem, was ich mit 17 getan habe. Diese Erkrankungen können unbehandelt zum Tod führen. Wenn es so leicht wäre, sich zusammenzureißen, dann würden wir das tun. In meinem Freundeskreis gibt es einen Vater, der sich letztes Jahr das Leben genommen hat.

Ich bin dankbar, dass mein Vorhaben mit 17 Jahren nicht geklappt hat. Ich hätte viel verpasst. Es gab viele Katastrophen in meinen bald 35 Jahren. Jede Menge sogar. Aber es gab auch jede Menge Sonne, Liebe, Abenteuer und Eis mit bunten Streuseln.

Auch jetzt weiß ich, dass es diese Momente gibt. Auch jetzt freue ich mich über die Sonnenstrahlen auf meiner Nase und den Geruch von frisch gebackenem Kuchen. Ich bin dankbar für meine Kinder und für Menschen, die meine sonderbare Art einzuschätzen wissen.

Meine Therapeutin sagt, dass ich traumatisiert bin. Von damals, von den Fehlgeburten, von dem Pflegen des Helden, dem Zusehen, wie er sich immer weiter verabschiedete, von der Unterschrift und der Tatsache, dass ich nichts gegen all das tun konnte. Sie meinte, dass ich trotzdem über jede Menge Ressourcen verfüge, die mich überleben und auch LEBEN lassen.

Depressionen sind heilbar. Eine Posttraumatische Belastungsstörung ebenso. Eine Wanne voller Selbstmitleid ist manchmal ganz toll, nur dann ist es möglich, wieder ins Leben einzusteigen und sich helfen zu lassen. Der Klick im Kopf muss passieren, liebe Menschen zur Unterstützung sind Gold wert. Seid da, hört zu und reicht das Handtuch, damit das Bad im Selbstmitleid ein Ende findet.

8 Gedanken zu „Dann reiß Dich halt zusammen

  1. Ich lese schon ganz lange mit auf Deinem Blog,liebe Ines,und kann nur immer wieder denken „was bist Du nur für ein großartiger Mensch „…Ich habe allergrößten Respekt davor wie Du dem Leben begegnest. Ich wünsche Dir von Herzen alles, alles Liebe.

  2. Liebe Ines, das alles hast du wieder so wunderbar beschrieben. Du bist eine tolle Kämpferin, aber du weißt, dass all deine Erlebnisse „nur“ das Leben spiegeln.. Einer bekommt es besonders einfach und belanglos ab, der nächste wie viele Hammerschlaege. Mancher denkt dann, er sei gerne mit der anderen Version beseelt, doch am meisten lernen die, die dem „Hammer“ begegnen. Sie verstehen auch mehr vom Leben.

  3. Liebe Ines,
    danke das Du,einfühlsam wie immer,versuchst Verständnis und Hilfe im gegenseitigem Umgang miteinander zu erreichen.
    Und wow,wirklich was für ein offener,starker Text!
    Danke das Du auch hier eine Lanze brichst für viele die Schweigen und sich aus Scham verstecken.
    Liebe Grüsse

  4. Das ist wirklich ein sehr intimer und persönlicher Text! Ich bewundere deinen Mut, Hut ab!

    Und ich stimme dir zu: es ist manchmal gut, in Selbstmitleid zu baden. Man muss nur aus dem Bad aussteigen können irgendwann 😉

    Dass bei dir nicht immer alles Friede-Freude-Eierkuchen sein kann und du mit deinen Kräften haushalten musst, ist glaube ich ziemlich normal.

    Du schreibst es reicht „nur“ für den Alltag. Ich finde, das ist schon eine ganze Menge!

    Ich drücke dir die Daumen und wünsche dir weiterhin viel Kraft und alles Gute und dass du bald wieder viiiiel mehr bessere Tage mit Eis und bunten Streuseln hast, als die dunklen Kraftlosen!

    Liebe Grüße,
    EsistJuli

  5. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Deines ist etwas größer als andere Päckchen. Zum Glück
    kennst du den Inhalt deines Päckchens. Bleib weiterhin so stark, für dich und deine Familie. Du bist eine tolle Frau❣️

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