Die Zeit, in der ich noch eine Angehörige eines schwer kranken Mannes war, wurde ich vor allem eins; einfallsreich. Mein Hirn hat es relativ schnell hinbekommen auf vieles eine Lösung zu finden, zu wissen wer gefragt werden kann oder auch Geschichten zu Ende zu spinnen. Für alles hatte ich eine Ausrede. Jetzt hingegen ist davon nicht viel übrig geblieben.
Simon wollte irgendwann nichts mehr essen, also probierte ich ewig rum etwas zu finden, was noch geht. Von Haferflockenmuffins, über Porridge und Cous Cous in sämtlich Variationen war alles dabei. Diese drei Sachen klappten ganz gut. Überall hab ich massenhaft Mandelmus drunter gerührt, Kalorien und so. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie oft am Tag ich in der Küche stand.
Ich habe Nachts nicht mehr bei Simon im Bett geschlafen, weil er besonders in dieser Zeit oft Wahnvorstellungen hatte, um sich schlug und schwer zu „wecken“ war. Nach meinem ersten blauen Auge und diversen anderen Spuren schlief ich unten. Wir bauten das Babyphone wieder auf, damit ich ihn hörte. Etwa alle Stunde war ich bei unserem Helden. Simon erzählte ich, dass ich mich gestoßen hätte und daher die blauen Flecken kamen. Und ich sagte auch dass ich Nachts nicht schlafen konnte, weil er so schnarcht, darum bleibe ich im Wohnzimmer. Das Bett im Schlafzimmer war vor einem Jahr übrigens ganz neu. Geschlafen darin habe ich bisher 2 oder drei mal.

Als das mit dem Pflegen losging, entwickelten wir am Anfang spezielle Methoden solange die Hilfsmittel noch nicht da waren. Die meisten kamen übrigens bei uns an, kurz nachdem er verstorben war. Danke für Nichts…
Ich überlegte mir in Sekundenschnelle kleine Geschichten, wenn Simon kurzweilig nicht ganz sicher war, wer die Kinder in unserem Haus sind. Später holte ich ihn hin und wieder aus seiner Phantasiewelt zurück, andere Male bin ich auf seine „Geschichten“ eingestiegen. Ich erinnere mich nach wie vor gern an diese Ferrarigeschichte zurück. Das waren nette Gespräche, weil ich in diesen Momenten immer wusste, dass sich unser Held seiner Situation nicht bewusst war.
Ich konnte zu keiner Zeit in meinem Leben so schnell auf Wortbrocken, Whats App Zeichen oder schwierige Situationen reagieren. Mir ist fast immer etwas eingefallen. Auch die Versuche den Kindern von der Erkrankung zu erzählen, später vom Tod und der Beisetzung waren immer in Geschichten verpackt, ohne aber die „Schlagwörter“ wegzulassen. Die Krebserkrankung, das Multiple Myelom war immer noch Krebs. Das wussten die Kinder. Genannt aber haben wir es „Krabbe Kunibert“. Der Sarg war das „Geheimversteck“ für den Himmel, die Urne hieß Erinnerungskapsel und die Beisetzung Abschiedsparty. Für manch Einen Geschmacklos, für uns passte das so ganz gut.

Die Organisation von zwei Kindern, zwei Hunden und kranken, pflegebedürftigen Mann klappte zu meiner jetzigen Verwunderung auch recht gut. Ich weiß nicht mehr wie, aber es fand sich nahezu immer eine Lösung, die allem gerecht wurde. Mal mehr, mal deutlich weniger.
Mein Kopf funktionierte zu dieser Zeit gut. Ich spielte in Geschichten mit, für die es kein Drehbuch gab. Mehrfach am Tag, zum Teil alle 20 Minuten stellte ich mich auf eine neue Situation ein. Das war nicht stark oder „Wow“, das war so, weil ich die Angehörige war, die alles mitbekommen hat. Wir haben viele Dinge nach Außen verschwiegen. Weil wir gar nicht gewusst hätten, wie wir das alles hätten äußern sollen. Weil wir befürchteten, dass unser Umfeld noch überforderter war. Wir dachten aber auch eine lange Zeit lang, dass diese mentalen Aussetzer vom Helden wieder vorüber gehen. Naiv. Ich weiß.
Aber….das was ich tat, tun viele Angehörige. Jeden Tag und über einen deutlich längeren Zeitraum als ich es tat. Viele Dinge sind von Außen nicht sichtbar, weil sie versteckt werden oder nicht gesehen werden wollen. Es erfordert einiges an Vorstellungskraft um auch nur zu erahnen, was in einem Haus so vor sich geht. Und dass kann, mangels Erfahrung auch verständlicher Weise kaum Jemand greifen.

Alle Angehörigen lassen sich täglich viele Dinge einfallen damit der „Alltag“ so weit wie möglich weiter geht. Sie organisieren Dinge für ihre Kinder oder auch Haustiere. Sie gehen zwischendrin noch einkaufen und wissen ganz genau welche Medikamente noch besorgt werden müssen.Sie werden zum Teil zu Erfindern ihres eigenen, kleinen Mikrokosmos. Bei mentalen Aussetzern lassen sie sich in einem Eiltempo Dinge einfallen um auf imaginäre Geschichten des Gegenübers zu reagieren.
Wir sind keine Superhelden, wären in vielen Momenten aber gern einer. Was wir aber können, einfallsreich sein. Für den Lieblingsmenschen, Für den Alltag und auch für vieles Andere. Manchmal wäre ein Schulterklopfen schön, Jemand der sagt, dass wir das gut machen. Den dem sind wir uns in den meisten Fällen nicht bewusst.
