Das Angehörigen Alphabet, H wie hungrig

Ha wie hungrig hört sich seltsam oder? Ich habe ewig überlegt wie ich das Gefühl, welches ich gleich versuche zu beschreiben, nennen sollte. Wobei, vielmehr war es eine labbrige Masse aus verschiedenen Emotionen.

Das Angehörige gerne mal sich selbst vergessen erwähnte ich bereits. Als es Simon in den letzten Monaten und später in der Klinik sehr schlecht ging, habe ich vor allem eins vergessen; essen. Dazu gesellte sich jede Menge Sport, täglich mindestens 2-3 Stunden. Meistens spät Abends wenn alle geschlafen haben oder tagsüber wenn Simon schlief. Für Sport war Zeit, zum essen nicht. Durch Sport hatte ich das Gefühl wenigstens etwas lenken und beherrschen zu können, nämlich mich selbst. Das fühlte sich gut an, blöd war nur dass ich das kaum essen nicht mitbekommen hatte.

Als Simon in der Klinik war und ich noch mehr pendelte als sonst, erhielt ich die Rechnung und mein Körper zeigte mir was er davon hielt. Ich hatte einen Schwächeanfall. Der Arzt fragte zich Sachen ab und sprach mich auf mein Gewicht an. Der BMI war, naja er war halt da. Er fragte nach den Bluttests einiges ab, auch wann ich das letzte Mal meine Tage hatte. Ich konnte mich nicht erinnern. Irgendwann vor 7 oder 8 Monaten?

Mein Hormonhaushalt war völlig durcheinander und ich stand kurz vor den Wechseljahren. Ich gebe zu, ich musste kurz meine Empörung hinunterschlucken. Danach bekam ich so bedingt leckere Shakes verschrieben, einer hatte 400 Kalorien, zwei davon sollte ich am Tag trinken. Hunger nach echtem Essen hatte ich kaum, schon lange nicht mehr. Hunger nach meinem Körper, ihn zu spüren um zu merken das ich noch da war hingegen jede Menge. Das fing schon in leichten Zügen vor unserer Hochzeit an, spitzte sich mit der Verschlechterung von Simons Zustand aber zu.

Ich hatte Hunger nach mir selbst, nach dem was ich mal gewesen war. Ich hatte Hunger nach einem Körpergefühl, nach mir.

Ich hatte Hunger nach dem was andere Menschen trocken „ihr Leben“ nannten. Es dauerte manchmal etwas bis ich begriffen hatte, dass unser Leben eigentlich gar nicht so übel war. wenn da nur Krabbe Kunibert nicht gewesen wäre.

Simon und ich hatten noch auf so vieles Lust. Letztes Jahr im Frühling hatten wir beschlossen, das wir doch dieses Jahr auf ein Festival fahren könnten, wenn es ihm wieder besser gehen würde. Wir wollten auch nach Hamburg um eine Kieztour machen, ein neues Tattoo sollte auch folgen. Wir wollten unter der Sonne liegen und durch Pfützen springen. Das alles machte mich hungrig auf mehr. Je klarer wurde, dass das nicht mehr klappen wird, je hungriger wurde ich. Je mehr Sport trieb ich. Desto weniger habe ich gegessen.

Inzwischen mache ich kaum noch Sport, wobei sich die Intensität wieder steigern soll. Ich nehme Medikamente, die den Stoffwechsel in meinem Hirn wieder richtig biegen sollen (Antidepressiva)und gehe zu meiner Therapeutin. Die Pillen sollen dem Serotoninspiegel (Glückshormone) auf die Sprünge helfen, sorgen aber auch dafür dass die Zahl auf meiner Wage gestiegen ist. Meine Blutwerte sind wieder nahezu im Normbereich. Das ist okay, auch wenn ich mit meiner neuen Figur noch ordentlich hadere.

Wichtiger war es mir aber fit zu bleiben. Noch so ein Schwächeanfall wäre doof, da gibt es nämlich noch zwei Kinder für die ich Verantwortung trage. Essen ist immer noch nicht meine Lieblingsbeschäftigung, aber es klappt. zusammen mit deutlich weniger Sport ist mein Gewicht jetzt deutlich mehr und so wie es ist.

Ich habe keine richtige Essstörung entwickelt, war aber vermutlich auf dem Weg dahin. Ich glaube dass nahezu jeder Angehörige irgendwann hungrig nach irgendetwas wird. Fast Jeder/Jede, den/die ich kennenlernen durfte hat eine eigene Art entwickelt mit dem Druck, dem man als Angehörige/r automatisch ausgesetzt ist umzugehen. Manche sind produktiv, andere wie meine, eher weniger.

Ich bin aus dieser Spirale ausgestiegen auch wenn ich immer noch ab und zu hungrig bin. Dieses Hungrig wandelt sich aber auch in Neugierde. Ich versuche das was war hinter mir zu lassen und mehr darauf zu achten, was da vor mir liegt. Das Problem an diesen Hungerspiralen ist die Tatsache, dass sie sich so schnell drehen, dass ein nach vorne Sehen kaum noch möglich ist.

Liebe Angehörige, Liebe Hinterbliebene. achtet gut auf Euch. Es ist okay hungrig nach etwas zu sein. aber achtet gut auf Euch. Achtet darauf, dass ich nicht in den Zog einer solchen Hungerspirale kommt.

Ein Gedanke zu „Das Angehörigen Alphabet, H wie hungrig

  1. Liebe Ines!
    Siehst Du mich mal wieder nicken? Manchmal nicke ich auf Facebook meine Zustimmung unter Deine Posts, manchmal hier im Blog. Heute auch wieder. Unglaublich, wie klar Du das sehen kannst nach so kurzer Zeit. Ich hab auch Hunger gehabt. Aber anders, als Du. Ich hab andauernd essen müssen. Ich habe aber gar kein Gefühl mehr dafür gehabt, wann ich satt bin. Ich hatte Bauchweh und mir wurde schlecht, aber satt war ich nie. Es war ein großes, schwarzes Loch in mir und ich habe versucht, es zu stopfen und es ging und ging nicht. Der Tiefpunkt kam zwei Jahre nach dem Tod meines Mannes. Und weil ich so ein unglaublicher Dickschädel bin und mir so schlecht helfen lasse, hat es ein bisschen gedauert, bis es besser wurde.
    Wieder mal: Du machst das prima. Einfach weiter so. Immer einen Schritt nach dem nächsten.

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