Angehörigen ABC; M wie Momentaufnahme

Ich kann mich noch genau an diese Abende erinnern. An Abende, die noch nicht so akut waren und ich weggehen konnte, während Simon über die Kinder wachte. An diesen Abenden konnte ich Frust ablassen, über Behandlungen, die nicht klappen wollten, über Stammzellspender, die sich nicht finden lassen wollten und über eine Beziehung, die gepeinigt war von Angst, depressiven Verstimmungen aller Beteiligten und Zukunftsängsten.

Eine Zeit lang wünschte sich unser Held noch ein drittes Kind. Ich wollte das nicht, weil ich nicht wissentlich ein zukünftiges Halbwaisenkind in die Welt setzen wollte. Unser Held hatte vor der allerersten Chemotherapie im Juni 2012 vorgesorgt und lagerte einiger seiner Samenzellen ein. (Die gibt es übrigens noch. Ich bezahle teuer dafür, dass ich mich bisher noch nicht dazu durchringen konnte, diese vernichten zu lassen) Dann kam die Erhaltungstherapie und das Thema erledigte sich von selbst. Diese Therapie hingegen sorgte für diverse Nebenwirkungen und die Tatsache, dass es keinen Stammzellspender gab führte zu einigen, recht lauten, verbalen Attacken des Helden gegenüber mir. Wir stritten. Oft. Nicht immer gegenseitig fair.

An den besagten Abenden konnte ich darüber jammern, mich beschweren und ungeheuerlich aufregen. Ob das nun nett war ist eine andere Geschichte. Ich denke aber menschlich.

Für gewöhnlich aber ging das nicht. Unser Held war im echten Leben ein toller Kerl, eine liebevoller Vater und Ehemann. Diese Streitereien aber häuften sich und ich fühlte mich hin und wieder persönlich sehr angegriffen. „Draußen“ sah das Niemand. Was man sah war der Mann, unser Held, der niemals aufgab, mutig war aber niemals unfair. Menschen sind dort „am gemeinsten“ wo sie sich am sichersten fühlen. Ich wusste das. ich weiß das immer noch. Trotzdem kränkte mich dieses Verhalten. Sehr. Immer wenn ich an falscher Steller einen Ansatz machte darüber zu reden, kamen häufig Reaktionen wie „Ach komm, er hat es auch nicht leicht“ oder „er ist immer so gut drauf, ich kann mir das nicht vorstellen“ oder auch „so schlimm ist es bestimmt nicht“ Richtig, im nachhinein war es nicht „Schlimm“ aber subjektiv betrachtet ab und an wirklich anstrengend. Ich habe geliebt. Immer. Aufrichtig. Aber dauergefrustet war ich auch. Simon war depressiv. Keine gute Kombi. Das was „von Außen“ gesehen wurde waren Momentaufnahmen, nicht die Realität. Und ich konnte das verstehen, aber mochte diese Pauschalisierung nicht.

Gleiches galt auch für die Akutphase. Simon war kaum noch außerhalb unserer vier Wände zu sehen. Und wenn, dann ging es zum Arzt, in die Klinik oder er sah im Stuhl sitzend den Kindern beim spielen draußen zu. Dass er zuhause, nachts heftige Wahnvorstellungen hatte, die dazu führten dass ich aus Eigenschutz nicht mehr mit in unserem Bett schlafen konnte, sah Niemand. Die Tatsache, dass unser Held inzwischen in Allem, wirklich in Allem Hilfe benötigte auch nicht. Wie auch? Wir redeten auch nicht mit Anderen darüber. Unsere vier Wände, unsere Angelegenheit. Dass das nicht immer clever war, weiß ich inzwischen auch. Aber diese Momentaufnahmen, in denen Simon vor der Tür gesessen hatte verbreitete das Bild, dass es ihm doch gar nicht so schlecht ginge. Die Tatsache, dass sein BMI irgendwann zwar deutlich kleiner war als meiner…nagut, das war sichtbar. Konnte aber anscheinend unbemerkt bleiben. Auch hier stimmte der wahrgenommene Moment nicht mit unserer Realität überein.

Ihr Lieben, wenn ihr schwer kranke Menschen samt Angehörige im nahen Umfeld habt, nicht immer ist deren Leben so, wie es im ersten Moment scheint. Nicht immer ist die Stimmung so gut, wie sie wirkt. Nicht immer so schlecht,wie ihr es in einer Sekunde wahrnehmt. Vielleicht ist es anstrengend. Vielleicht wollen der Patient und dessen/deren Angehörige es auch gar nicht; aber manchmal ist es hilfreich genauer hinzusehen. Oder nachzufragen.

Auf jeden Fall aber; lasst Euch bitte nicht zu schnell dazu verleiten von einer Momentaufnahme auf die gesamten Lebensumstände zu schließen. Das gilt übrigens immer, nicht nur dann, wenn kranke Menschen im Spiel sind.

5 Gedanken zu „Angehörigen ABC; M wie Momentaufnahme

  1. Das ist sehr treffend ausgedrückt. Genauso ist es!

    Und als Betroffener merkt man das nicht einmal selbst gleich, wie es wirklich ist, wenn man selber drin steckt. Man ist so mit Durchgehalten beschäftigt, dass die Selbstreflektion irgendwie darunter leidet. Wenigstens war das mein Eindruck bei mir…

    Manche machen aber tatsächlich gezielt ein „Schauspiel“ für Außenstehende – hab ich auch schon von gehört.

    Genau Hinsehen lohnt sich immer!

  2. Das kenne ich auch zu gut. Man hat mir das starke Ich-mach-das-schon während der ersten beiden Chemos so gut abgekauft, dass ich mir dann sagen lassen musste, ich wäre durch die Sache ja durchgegangen „wie ein Messer durch Butter“.
    Leicht gesagt, wenn man nicht nachfragt und hinterfragt.

  3. ❤❤❤❤
    Diese vier Herzen gelten Dir ebenso wie den drei Kommentaren dazu. Ihr alle sprecht mir aus dem Herzen, die selben Erfahrungen „durfte“ ich auch machen. Ines, gerade hat das ZDF innerhalb des Mittags-Magazins über Dich, Simon und euer Leben gezeigt. Anscheinend war es ein bereits älterer Beitrag, auch ohne jeglichen Kommentar bezüglich eures jetzigen Lebens. Schade, wenn anscheinend jetzt solche Berichte nur dazu dienen, Sendezeit zu füllen😒! Dafür ist das Thema zu ernst und zu wichtig, es ist auch eine Frage des Respekts. 🙋‍♂️

  4. Danke für deine weisen Worte! Selber in einer sehr schwierigen Situatuion, mein Mann mit Kolonkarzinom Stage 4…. in deinem Worten erkenne ich mich wieder. Die Idee für dein neues Buch, Angehörigen ABC….😘
    Btw Depressionen sind genauso eine Krankeit wie Krebs und niemand hätte gewagt deinem oder meinem mann zu sagen, „er solle nur positiv denken. die Sonne scheine ja so schön und er hätte ja zwei gesunde Kinder also soll er doch dankbar sein.“ Ich hab das x-fach zu hören gekriegt….
    Herzliche Grüsse, you do a great job!

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