Es ist doch nur…

Kennt ihr diese Momente, an denen ihr Euch am liebsten selbst kurz Ohrfeigen würdet um wach zu werden? Oder Euch zumindest selbst auslacht? Oder Beides, je nach Stimmungslage?

Ihr kennt mich. Ihr wisst dass ich beides, zumindest in Gedanken in Perfektion beherrsche.

Letzte Woche wurde eines der Kinder krank. Eine harmlose Erkältung, mit Schnupfen, Husten und leichte, Fieber. Da die Minihelden relativ selten krank sind, war es das erste Mal in diesem Jahr. Letztes Jahr hatte der kleine Batman die echte Influenza; 10 Tage über 40 Fieber. Seine Mandeln sind auch bereits draußen und die Einhornbändigerin hatte noch vor einigen Jahren diverse Krampfanfälle. Beide Kinder waren bereits Beatmungspflichtig. Ich kenne also auch andere Dinge, als harmlose Erkältungen. Und trotzdem… Inzwischen ist es so, dass bei jeglicher Temperatur über 38 Grad mein Herz so sehr zu pochen beginnt, dass ich es im Hals spüre. Dabei ist es nur etwas Fieber.

Früher hieß Fieber, dass alles sofort und immer wieder desinfiziert werden muss. Steckte ein Virus dahinter, musste Simon vorrübergehend ausziehen damit er sich nicht ansteckt. Hatte er selbst eine Temperatur ab 38 Grad, musste er in die Klinik, Isozimmer inklusive. Das ist heute natürlich nicht mehr so, keiner von uns ist Immungeschwächt. Uns geht es gut, kleinere Kränkelepisoden machen nichts und sind aufgrund der wezzerlage mehr als normal. Ich weiß das. Und trotzdem werde ich dezent panisch, unruhig und fühle mich unendlich alleingelassen. Es fühlt sich manchmal so an, als könnte ich die Verantwortung eines fiebernden Kindes nicht tragen. Das stimmt natürlich nicht. Auch das weiß ich. Aber anfühlen tut es sich trotzdem so. Zumindest im ersten Moment. Dabei ist es nur eine Erkältung.

Um uns herum hängen die ersten Weihnachtsdekodinger in den Fenstern. Der Kalender zeigt dass ganz bald Dezember ist. Es ist nur ein Monat. 31 Tage. Letztes Jahr um diese Zeit fürchtete ich mich vor diesem Monat. 5 „besondere“ Jahrestage stehen an. Weihnachten, bzw. Heiligabend ist nur einer davon. Am 12.12.2016 hatten wir es schriftlich. Kunibert war gewachsen. Simon hatte ein massives Rezidiv mit Weichteilbeteiligung. Der erste Chemoblock startete drei Tage später. Dieses Jahr an diesem Tag erzähle ich im Innenministerium NRW von meinem Mann und versuche zu verdeutlichen warum es so wichtig ist sich als potenzieller Stammzellspender zu registrieren. Am 14.12.2008 sind der Held und ich zusammengekommen. Dann Weihnachten, zeitgleich unser 30. „kleiner Hochzeitstag“. Kurz vor Silvester hat Simon Geburtstag und der Jahreswechsel steht auch an. Es ist nur ein Monat.

Vor zwei Jahren um diese Zeit sah die Wand hinter unserem Sofa ganz anders aus. Es hing dort der 4. Adventskalender. Ein Bild gab es auch. Mit vier Menschen darauf. Beides ist von der Wand verschwunden. Zwei Wochen bevor Simon letztes Jahr im Sommer starb, brach das oberste Bücherregal aus der Wand. So als wollte uns da wer etwas ankündigen; als ob schon bald mehr wegbrechen könnte als nur dieses Regal.

Letztes Jahr um diese Zeit hatte ich an Silvester das Gefühl dass wir alle ins neue Jahr wechseln, Simon aber lassen wir im alten Jahr zurück. Ich war aber auch der Überzeugung, dass wir es nur einmal überleben müssen und das es im nächsten Jahr alles viel leichter sein wird. Ich lache immer noch.

Jetzt haben wir das nächste Jahr. Nichts ist einfacher. Meine Erwartungshaltung an mich selbst war gigantisch. Noch vor wenigen Wochen malte ich mir aus, wie dieser Monat sein wird. Anders als letztes Jahr. Schöner. Bunter. weniger gefühlt einsam. Nun denn, bisher klappte das nicht. Im Gegenteil. Durch diese Erwartung an mich selbst, erscheint es mir dieses Jahr fast noch emotional schwieriger.

Die Heldenkinder und ich haben bereits Plätzchen gebacken. Hier läuft auf Wunsch der Minihelden ab und Weihnachtsmusik. Bald schmücken wir das Haus und ich ärgere mich, dass ich noch immer keinen Leuchtebaum für den Garten besorgt habe. Irgendwie fände das sogar ich schön, Baum, Licht…ihr wisst schon. Ich versuche mein Unwohlsein nicht auf die Kinder zu übertragen und versuche auf ihre Wünsche zu reagieren.

Draußen ist es kalt. An manchen Tagen will das Grau gar nicht am Horizont verschwinden. Keine Wolkenlücken in Sicht. Mir ist kalt und ich hasse die stille abends im Haus wenn die Kinder im Bett sind.

Simon und ich kauften uns vor einigen Jahren ein neues Sofa. Ein riesiges Ding. Das alte war beige, aus Kunstleder und hatte diverse Kugelschreiberstriche an sich. Außerdem war es zu klein für uns alle. Nun haben wir dieses riesige Ding. Ich mag es immer noch. Aber an manchen Tagen erschlägt mich die Größe.

Ich vermisse mein altes Leben. Ich vermisse mich. Und manchmal frage ich mich ob dieser Monat irgendwann den Schrecken für mich verliert.

Es ist nur Fieber. Es ist nur ein Monat. Völlig harmlose Dinge. Eigentlich.

6 Gedanken zu „Es ist doch nur…

  1. Liebe Ines,

    wie bei so vielen Deiner Posts möchte ich jetzt gerade einfach zu Dir kommen und Dich in den Arm nehmen! Einfach ein bißchen Last von Deinen Schultern nehmen, es wäre so schön, wenn ich es könnte!
    Ich schicke Dir einfach mal einen ganz lieben Gruß und ein großes Paket mit Kraft und Wolkenlücken für den Dezember.
    Du rockst den Dezember!
    Franziska

  2. Da es doch ein paar Parallelen zu der Geschichte meiner Frau gibt, gerade in zeitlicher Hinsicht, muss ich beim Lesen Deines Blogs immer mal wieder schlucken und gleichzeitig gibt er soviel Mut.

    Dieser Dezember wird gefühlt auch für mich schwieriger aus genannten Gründen. Ich bin mit mir selbst viel ungeduldiger als im letzten Jahr, denke ständig „Jetzt MUSS doch langsam mal wieder jemand um die Ecke kommen“ und weiß doch selbst am Besten, dass so etwas nicht auf Knopfdruck funktioniert..

    Ich glaube, ohne meine Katzen würde ich durchdrehen… 😉

    Liebe Ines, mach das Beste aus Deinem „Endgegner“. Er kann und wird Dich nicht kleinkriegen. Wir haben ganz anderes überstanden als so einen Monat…

    Alles Gute
    Michael

  3. Liebe Ines
    Dein Held rockt den Himmel und du rockst das Leben hier. Und wie du das tust und wievielen Menschen, mich eingeschlossen, du mit deinen Texten hilfst…. Du vermagst deine Gefühle so toll in Worte zu verpacken, dass es mir sehr nahe geht. Ich stehe noch mitendrin mit meinem Mann mit metastasierendem Kolonkarzinom und ja, wir sind noch an desinfizieren, wenn Sohnemann hüstelt.
    Ich wünsch dir soviel Kraft für die kommende Zeit und drück dich aus der Ferne.
    Silvia

  4. Liebe Ines, diese Jahreszeit ist für sich ja schon nicht leicht. Aber diese geballte Ladung an Terminen, die mit unseren Liebsten zusammen hängen, macht es um Einiges schlimmer. Da kann ich mitreden.
    Ich bin in Gedanken bei dir.

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