Bekommt einer Deiner Lieblingsmenschen die Diagnose einer schweren, möglicherweise tödlich verlaufenden Diagnose; ja dann ticken die Uhren anders. Erst recht wenn Euer Lieblingsmensch pflegebedürftig wird.
In unserem Beispiel. Unser Status Quo im April 2012: Zwei Erwachsene, ein Kind, das grade ihren 4. Geburtstag feierte, das Zweite in meinem Bauch. Wir freuten uns auf unseren letzten Sommerurlaub kurz vor der Geburt des kleinen Batman. Ein letztes Mal durchatmen bevor das Babygeschrei und Windeln wechseln los geht. Exklusivzeit für die baldige große Schwester. Rückenschmerzen.
Status Quo im Juni 2012: zwei Erwachsene, ein Kind dass seine Geburtstagskrone immer noch nicht absetzen will, das Zweite immer noch in meinem Bauch, Urlaub abgesagt. Kaiserschnitt geplant. Rückenschmerzen. Krebs. Angst.

Status Quo im Januar 2020: Eine Erwachsene, ein Kind, dass bald zum 12. Mal ihre Geburtstagskrone aufsetzen wird. Das andere Kind lernt grade lesen und scheint ein Mathegenie zu werden. Urlaub für den Sommer noch unklar. Keine Rückenschmerzen. Kein Krebs. Unsicherheit. Hoffnung.
Neben den Gedanken, was nun alles auf Euch zukommen wird, könnten auch Blitze durch Euern Kopf schießen, die Euch daran erinnern was ihr hättet alles noch tun wollen. Die Dinge, die ihr noch erleben wolltet, Dinge, die ihr möglicher Weise vorhattet sind plötzlich präsenter den je. Denn plötzlich gibt es da dieses große Fragezeichen ob das überhaupt noch möglich ist.
Wird das Thema Krankengeld aktuell denkt ihr auch an finanzielle Dinge. Bleibt ihr ebenfalls zu Hause um zu pflegen sowieso. Richtig spaßig wird es dann, wenn dieses Krankengeld wegfällt. Ihr denkt vermutlich darüber nach ob und welche Rücklagen vorhanden sind. Wo als erstes gespart werden kann, ob ein Auto wirklich nötig ist und Ähnliches.
Ihr wälzt Unterlagen, Versicherungspolicen und guckt welche dieser Dinge gelöst werden können. Hauptsache, die nächste Klassenfahrt Eurer Kinder kann bezahlt werden. Oder die benötigte Winterjacke. Oder Schuhe. Ihr versteht schon.
Durch Gespräche mit anderen Angehörigen weiß ich, dass das Gedanken sind, die nicht nur durch meinen Kopf gespukt sind. Ich bin irgendwann viele Wege nicht mehr mit Bus und Bahn gefahren, sondern gelaufen. Vollkommen egal wie groß die Einkaufstüten waren. Ich wollte das Geld für die Fahrkarten nicht ausgeben. Um Stattdessen mit den Kindern ein Eis essen gehen zu können. Wir lösten diverse Versicherungen und Wertpapiere um die Miete zahlen zu können. In den 6 Jahren der Erkrankung meines Mannes gab es diese Situation öfter. 2012 brach das Multiple Myelom aus, Kunibert zog ein. Zu diesem Zeitpunkt lebten wir noch nicht zusammen. Simon fiel ins Krankengeld und brauchte nach der ersten Kliniketappe Unterstützung. Er zog in die Miniwohnung von der Einhornbändigerin, meinem Batmanbabybauch und mir. Wir beschlossen, dass er dann auch gleich hier bleiben könnte, Simon kündigte seine Wohnung und zog zunächst zu uns. Seine Eltern unterstützen finanziell, meine Eltern ebenso. Das wäre sonst alles mehr als eng geworden.
2017 und 2018 ein ähnliches Spiel. Unser Status Quo, die Dinge, die wir noch nicht getan haben obwohl wir es eigentlich doch so gern wollten, unsere finanzielle Situation. Das waren Dinge, die eine ganze Zeit lang unser Leben beherrschten. Gedanken, die eigentlich Niemand braucht, über die Niemand gern redet. Erst recht nicht in einer sowieso schon doofen Situation. Wir predigten hier von dem Gedanken im Hier und Jetzt zu leben. Das taten wir. Oft. und dennoch sorgten die Gedanken an Morgen für schlaflose Nächte.

Unser Status Quo war überfordernd. Der Status Quo von chronisch und/oder schwer kranken Menschen samt Familie kann plötzliche existentielle Ängste hervorrufen. Wenn Außenstehende an eine Krebserkrankung denken, an Pflegebedürftigkeit , dann denken sie zuerst an Angst, an Chemotherapie, an den Tod oder ausfallende Haare. Patienten selbst aber merken schnell, dass sich dazu noch einiges anderes gesellt. Angefangen bei dem wegbrechendem Gehalt (Gehälter) über Zuzahlungen für medizinische Hilfsmittel oder Rechnungen für Taxifahrten, wenn es nicht anders geht. (auch da muss in Vorkasse gegangen werden. Taxirechnungen, wenn das Auto stehen bleiben muss und die Öffentlichen gemieden werden sollen, Fahrten zum Arzt… da kommen schnell mehrere Tausend Euro in 3 Monaten zusammen, kein Scherz.)
Wir hatten noch Glück. Auch durch Euch. Unsere Miete konnten wir zahlen. Diese zich Hilfsmittel auch. Wir lösten Rücklagen , kündigten Versicherungen oder nahmen 2017 einen Kredit auf. Viele Andere können das irgendwann nicht mehr. Es sind nicht wenige Patienten, die aufstockende Hilfe vom Staat brauchen. Viele, die umziehen müssen und die nächste Klassenfahrt der Kinder nicht bezahlen können.
Pflegebedürftigkeit macht nicht nur hilflos. Sie kann auch dafür sorgen plötzlich unter die Armutsgrenze zu rutschen. Mit diesen Gedanken sind Patienten und deren Angehörige oft alleine. Die Wenigsten reden darüber. Das sagt einem auch kein Arzt. Wenn man Glück hat, findet man gute Sozialarbeiter in der Klinik, die beratend zur Seite stehen. Wenn man Pech hat nicht.

Liebe Angehörige, ich weiß wie wichtig es ist im Hier und jetzt zu leben. Ich weiß aber auch, dass da andere Gedanken in Euern Köpfen sind. Der größte Begleiter ist Angst, weil ihr oft gar nicht wisst, wie Euer Status Quo eigentlich aussieht. Angst vor Morgen. Vor einem Verlust, von dem ihr glaubt diesen nicht aushalten zu können. Aber auch die Angst vor dem Versagen. Oder eben auch der Angst nicht zu wissen, wie ihr morgen euern Kühlschrank füllen sollt.
Dafür gibt es Beratungsstellen, verschiedene Krebsstiftungen, öffentliche Behörden und staatliche Unterstützung. Es ist kein Betteln. Es ist eine Hilfe um Euch wenigstens etwas Last von den Schultern zu nehmen. nehmt das an, lasst Euch von Freunden und/oder der Familie unterstützen.
Hallo,
diese andere Seite der Krankheit müsste viel mehr kommuniziert werden. Zum Zeitpunkt meiner Krebserkrankung war ich alleinerziehend mit zwei Kindern ( zum Glück schon älter), oftmals war ich mehr Manager meiner Krankheit als mit dem gesund werden beschäftigt.