Vor ziemlich genau 8 Jahren geschah es. Ich saß mit meinem dicken Babybauch und vorzeitigen Wehen in einem Arztzimmer. Nicht weil es erneut darum gehen sollte, wie diese Wehen zu stoppen sind. Ich saß da mit dem Mann, der für meinen Babybauch überhaupt verantwortlich war. Der Mann, mit dem ich seit etwa 3,5 Jahren eine Beziehung führte. Während des Gespräches ging mir die Luft aus. Ich konnte nicht atmen und eine Sauerstoffflasche für den Notfall war nicht greifbar. Dieses Gefühl kannte ich bereits. Als älteres Kind und junger Teenager begegnete mir diese Enge in der Brust schon Mal. Es war ein anderer Grund, damals sagte Niemand, dass der Mensch neben mir vermutlich bald sterben wird weil er Krebs hat. Der Grund war so ganz anders, das Gefühl aber war nahezu identisch. Ich wusste daher aus meinen Erfahrungen, dass ich einfach versuchen müsste weiter zu atmen. Vielleicht etwas flacher als sonst, aber ich wusste dass mein Körper mich nicht im Stich lassen würde.
Vor drei Jahren um diese Zeit wusste ich, dass sich dieses Weiteratmen gelohnt hatte. Dieses Gefühl der Enge, das Gefühl dass mein Herz im Hals schlägt war immer mal wieder da. Aber ich wusste dass das Atmen irgendwie funktionieren würde. Mein Dicker Babybauch war inzwischen zu einem 4, fast 5 jährigen Jungen herangewachsen. Mein erstes Kind, das damals kleine 4 jährige Mädchen wurde die beste große Schwester der Welt. Mein Mann lebte noch. Es lagen Jahre mit Tiefen aber auch vielen Höhen hinter uns. Vor drei Jahren aber wurde auch immer mehr bewusst, dass unsere zeit zu viert langsam angezählt wird. Therapien schlugen nicht mehr an, ein Stammzellspender wollte sich nicht finden lassen. Atmen ging trotzdem. Und weil wir uns das Atmen nicht nehmen lassen wollten, heirateten wir. Wir feierten unseren Hochzeitstag monatlich um es zur Silberhochzeit zu schaffen. Aber das wisst ihr ja.

Vor zwei Jahren um diese Zeit, kurz vor unserem 12. Monatlichen und dem ersten jährlichen Hochzeitstag kam der Heldenvater ein letztes Mal in die Klinik. 2 Wochen nach unserem Hochzeitstag verstarb er. Ich durfte dabei sein. Bis zur letzten Sekunde
Die Luft zum atmen fehlte etwas mehr als sonst. Manchmal hyperventilierte ich regelrecht um zu versuchen so viel Luft wie möglich in meine Lungen zu pressen. Auch wenn ich oft das Gefühl hatte, es nicht aushalten zu können. Es ging. Die nächsten Wochen waren verbunden mit Amtsgängen, mit dem Sarg anmalen, einen Baum im Friedwald aussuchen und panischer Angst vor der Zukunft. Es wurde eine Urnenbeisetzung im Zauberwald. Eine Abschiedsparty, zusammen mit vielen Freunden und der Familie. An meinem 34. Geburtstag ist mein Mann ins Krematorium gebracht worden. Knapp 3 Wochen später folgte die Beisetzung.

Vor einem Jahr, genau ein Jahr nach dem mein Mann beigesetzt worden war, wurde mein damaliger Babybauch, mein inzwischen 7 jähriges Kind eingeschult.
Heute…in wenigen Wochen wäre mein 3. Hochzeitstag. Wäre nicht ist. Die Luft zum atmen wird immer besser. Freies durchatmen funktioniert auch ohne eine Sauerstoffflasche bestens. Meistens. Ich vermisse. Wir vermissen. Oft. Aber gut geht es uns auch. Weil wir losgelassen haben. Nicht Simon, aber das Gefühl dass uns die Luft abschnürte. Wir denken fast jeden Tag an ihn, aber anders als noch vor einem Jahr.
Im Juni, Juli und August häufen sich viele Jahrestage. Schöne und weniger schöne. Aber fast alle haben etwas gemeinsam. Viele dieser Tage, die mit der Erkrankung und dem Tod meines Mannes zu tun haben, tragen zeitgleich auch schöne Erinnerungen. Im Juni 2012, der Zeitpunkt der Erstdiagnose. Zeitgleich war ich mit unserem zweiten Kind schwanger, dass kurz vor der ersten Hochdosischemo gesund geboren wurde. Wenige Monate bevor Simon am 6.7.2018 verstarb, wurde sein Neffe geboren. Mein Geburtstag fällt nun jedes Mal auf den Jahrestag seiner Fahrt ins Krematorium. Und der1. Jahrestag der Beisetzung bzw. Abschiedsparty fiel auf den Tag der Einschulung unseres Sohnes.
Das alles ist fast schon merkwürdig. Und gleichzeitig zeigt es sehr, sehr deutlich, dass es ein „Danach“ geben wird. Ein Leben nach dem Verlust eines Lieblingsmenschen. Der Tod und das Leben sind in unsrem Fall sehr eng miteinander verbunden. Tage, an denen Schreckliches passierte, bekamen ein Jahr später plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Wobei…eine völlig neue Bedeutung ist es am Ende doch nicht, aber die nicht so schönen Dinge wurden durch schönere ergänzt.

Ähnlich verhält es sich auch im Leben. Unser Held wird nicht vergessen. Wir haben in den letzten zwei Jahren einige Projekte bewerkstelligt, die unsere innere Veränderung auch nach außen getragen hatte. Erinnert ihr Euch, es fing an dass wir unseren Keller ausgemistet haben. Viel Zeug auf dem Flohmarkt verkauften und von dem Erlös eine Art Tobekeller bauten. Wir veränderten so manche Farbe in unsrem Haus, verbannten manche Möbel. Letzten Winter spendeten wir viele Klamotten des Helden an die Berliner Obdachlosen- und Kältehilfe. Wir planten ein paar Aktionen zu Gunsten der DKMS, gaben nicht auf über das Thema Stammzellspenden zu sprechen. Damit es anderen Familien in Zukunft eventuell besser ergeht als uns. Erst letzte Woche bekam ich eine Nachricht , dass Jemand, der sich aufgrund von Simons Geschichte bei der DKMS hat registrieren lassen, nun seine Stammzellen spenden darf. Das war Nummer 16! Wir versuchten lange Zeit unsere negativen Gefühle, die Luftnot oder die fehlende Sauerstoffflasche in produktive Dinge umzulenken.

Viele von diesen Dingen tun wir immer noch, allerdings mehr im Hintergrund.
In meinem Leben geschahen bereits öfter Dinge, die die Luft knapp werden ließen. Eine Zeit lang wartete ich förmlich auf die nächste Katastrophe. Es dauerte eine Weile bis ich verstanden hatte, dass ich mir damit nur noch mehr Luft rauben würde. Inzwischen versuche ich mich darauf zu konzentrieren was mir meine Erfahrung beigebracht hat. Die Erfahrung, dass die Luft zurückkommt, wenn ich es nur zulasse. Wenn ich mich auf diese Katastrophe, auf dieses Gefühl der Luftnot einlasse. Dann ist es im ersten Moment furchtbar. Im Zweiten auch noch. Im Dritten auch. Aber irgendwann kommt die Luft zurück. Entweder allein oder durch etwas Unterstützung.
Ihr Lieben, falls einer eurer Lieblingsmenschen verstorben ist, falls einer dieser Menschen schwer krank ist oder ihr durch andere Täler gehen müsst; geht da durch. Heult, schreit, besorgt Euch einen Boxsack. Seid verzweifelt, verflucht alle, seid neidisch oder bemitleidet Euch selbst. Das alles ist erlaubt. Das alles ist nötig. Denn nur wenn ihr all diese Gefühle, diese Wut oder sonst was zulassen könnt, könnt ihr später wieder aus diesem Loch hervorkrabbeln. Ihr werdet andere Menschen sein als zuvor. Weil es Ereignisse sind, die mehr prägen als uns allen lieb ist. Aber egal was andere Menschen dazu sagen; ihr seid keine schlechteren Menschen als vorher, keine Schwächeren. Ganz im Gegenteil.

Uns geht es gut denke ich. Auch wenn wir ab und an über die Sauerstoffflasche nachdenken, weil uns die Luft ausgeht. Die nächsten Wochen bringen einige „Jahrestage“ mit sich. Ich weiß noch nicht genau wie wir diese verbringen werden. Ich weiß auch nicht wie sich der jeweilige Tag x anfühlen wird. Es sind emotionale Gedanken, es wird Luftballons und Seifenblasen geben, die wir in den Himmel schicken. Alles Andere wird sich zeigen. Im Vergleich zum letzten Jahr aber bin ich weniger panisch. Im Vergleich zum letzten Jahr bin ich mir sicher, dass die Luft zurückkommen wird. Und ganz tief in uns drin hoffen wir auch darauf, dass viele Erinnerungen durch neue Erlebnisse und Menschen ergänzt werden. Ihr müsst nicht stark sein. Ihr dürft Euch bemitleiden und alles ätzend und unfair finden. Holt Euch Hilfe, falls es allein nicht möglich ist. Es gibt einen Weg daraus, versprochen.