Verbissen zu sein bedeutet im Fall vieler (pflegender) Angehöriger zu sehr bestrebt zu sein, so viele Tage wie möglich rauszuholen. Alles für ein bisschen Linderung des Lieblingsmenschen zu tun. Genesung oder zumindest weitere Zeit ist das große Ziel. Zum Anderen führt diese Verbissenheit in diesem Thema auch dazu, dass „wir“ Angehörigen uns nicht völlig nutzlos fühlen. Weil wir etwas tun können. Irgendwas. Pflegen, Hoffen, Da sein, medizinische Kleinstbehandlungen wie Spritzen setzten und Ähnliches. Ab einem gewissen Grad der Erkrankung sind die nächsten Angehörigen bzw. die Inhaber/innen der Gesundheitsfürsorge Ansprechpartner für Ärzte. Das alles wirkt nach Außen wie eine gigantische Last. Von Angehörigen können diese Dinge aber auch als positives Gefühl wahrgenommen werden. Weil wir eben etwas tun können. Mehr als nur daneben zu sitzen und auf den Tod zu warten. Gleiches gilt für anfallende Dinge, die zu Hause plötzlich allein gestemmt werden müssen. Es ist nervig und anstrengend, aber immerhin können wir etwas tun. Das ist vermutlich einer der Gründe warum „wir“ so selten Hilfe annehmen wollen.
Kurz nach dem der kleine Batman auf die Welt gekommen war, zog Simon erneut in die Klinik. Zur ersten Hochdosischemo samt Rückgabe der eigenen Stammzellen. Zeitgleich war die Epilepsie der Einhornbändigerin so stark, dass ich sie kaum aus den Augen lassen konnte. In den ersten zwei Wochen nach der Geburt hatte ich erst eine Freundin, später meine Mutter als Unterstützung zu Hause.
Dennoch, den größten Teil wollte ich alleine machen. Einkaufen gehen zum Beispiel. Einen sechser Träger 1,5 Liter Wasser plus Einkäufe in der anderen Hand und das Baby im Tragetuch in die dritte Etage tragen. Eine Woche nach dem Kaiserschnitt. Ja, clever war das nicht. Aber ich wollte das. Weil ich es mir selbst beweisen wollte. Dass zumindest ein Erwachsener in dieser Wohnung die Stellung halten konnte.

5 und 6 Jahre später, während der letzten Akutphase tat ich im Grunde das Gleiche. Ich besuchte erneut mit Mundschutz, Kitteln und Handschuhen bewaffnet diverse Kliniken. Ich ruderte zwischen 40h Job, den Kids, dem kranken Mann und auch den Hunden, die gerne ab und an einem Grashalm schnuppern wollten. Als Simon die letzten Wochen zu Hause war, probierten wir sämtliche zusätzliche Alternativmedizinische Dinge aus. Wir haben einen Kredit dafür aufgenommen, um das überhaupt leisten zu können. Er arbeitete längst nicht mehr. Ich hab mich krankschreiben lassen, da er eine Rund um die Uhr Versorgung brauchte. Am Liebsten hätte ich ihm einen GPS Tracker angelegt. Denn manchmal war er so verwirrt, dass er das Haus nicht wieder gefunden hätte, hätte er es verlassen. Aber Aufgeben? Niemals. Wir funktionierten gut als Team. Zumindest sah ich es damals so.
Er musste einfach überleben. Wir kämpften um jeden Tag. Koste es was es wolle. Völlig unbemerkt gab es in Akutphasen immer wieder Momente, in denen sich unser gesamtes Tun um Simons lebensverlängerte Strategien drehten. Die Gedanken, dass das am Ende nicht klappen könnte oder es vielleicht nicht die besten Ideen wären, hatte ich nicht. Auch dass er sämtliche Pflegedienste ablehnte war für mich in dieser Zeit kein Problem. Immerhin dachte ich irgendwann, dass ich genau wüsste was ich tue und dass er sowieso nur mich da mitmischen lässt. Das musste einfach klappen.

Es waren keine Strohhalme nach denen wir da gegriffen hatten. Es war für mich lange Zeit eine Tatsache, dass Simon noch nicht sterben wird/darf/kann. Der Plan war ein Anderer. und das ziel sowieso.
Im Nachhinein war diese Zeit in Etwa zu vergleichen mit einem Wettkampf. Auf jeden Fall gewinnen. Aus der Außenseiterposition. Und auch dann, wenn der Gegner deutlich stärker war.
Diese Zeit endete in der Klinik. Und selbst da dachte ich noch, dass er wieder zurück nach Hause kommen wird. Seine Halluzinationen und Wahnvorstellungen wurden immer stärker. Er konnte nicht mehr schreiben oder lesen. Sein Hirn wusste nicht mehr, dass er Kinder hatte oder dass er verheiratet war. Manchmal blitzte es kurz durch, aber in der meisten Zeit schien sein gesamtes Vorleben gelöscht. Ich erzählte bereits, dass ich viele Monate bevor unser Held verstarb, den Tod riechen konnte. Ehrlich. Je mehr ich diesen Geruch wahrnahm, desto verbissener wurde ich, das auf gar keinen Fall zuzulassen. Dass der Sterbeprozess vermutlich in dieser Zeit schon begonnen hatte; dass stand für mich überhaupt nicht zur Diskussion. Es war eher ein Grund noch mehr zu „rudern“, noch mehr zu versuchen als zuvor.

Sein letztes Wochenende, an dem Samstag waren wir mit Rollstuhl im Klinikpark unterwegs. Er hörte Musik in seinem Ohr „Time of my Life“, versuchte mitzusingen. Er fragte mich ob ich ihn heiraten will. An seinen Beinen schien ein blaues Geflecht durch; Kunibert war inzwischen auch dort angekommen. Er rubbelte daran, weil er dachte dass es an der Kälte liegt. Anfang Juli. Aber; über eine Stunde waren wir ohne Sauerstoff unterwegs. Eine Drainage im Hals wurde gezogen. Die Toraxdrainage war nach knapp zwei Wochen auch endlich draußen. Er war so „fit“ wie lange nicht mehr. Sonntag war es schon etwas weniger, raus konnten wir nicht. Aber ich war der festen Überzeugung, dass es jetzt endlich bergauf geht. Ich sprach mit den Ärzten und dem Sozialdienst. Wie wir das dann in ein paar Tagen zu Hause machen würden, welche Hilfsmittel noch fehlten.
Am Montag dämmerte mir, dass wir diese Hilfsmittel nicht benötigen werden. Sein Zustand verschlechterte sich von jetzt auf gleich dramatisch.
Dienstag war es noch schlimmer.
Mittwochabend gegen 23 Uhr wurde er ins Koma gelegt. Vorher bekam ich den Anruf aus der Klinik und konnte ein letztes Mal mit Simon sprechen. Es war klar, dass unser Held diesen Zustand nicht wieder verlassen wird. Es gab keine Optionen mehr. Außer eine Riesen Op. Diese hätte er entweder nicht überlebt oder im Optimalfall danach noch ein paar Wochen/Monate länger auf der Intensivstation leben können. Vollbeatmet. Mit Luftröhrenschnitt. Mit starken Schmerzen und im seichten Koma.
Am Donnerstag um 13 Uhr entschied ich mich dagegen.Spielte die Sensenfrau und bestimmte, etwas Anderes. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag um kurz nach Mitternacht verstarb unser Held. Immerhin war er nicht allein. Umzingelt von guten Freunden. Und von mir. Ich versuchte das Gefühl zu verdrängen, versagt zu haben. Aber das wisst ihr ja.

Das Verbissene hatte ich verloren. Das Verbissene zuvor war eher ein egoistischer Gedanke von mir. Ich hatte seine Gesundheitsfürsorge, hätte also schon viel früher die Reißleine ziehen können. Wir hätten uns früher geschlagen geben müssen als gegen einen unsichtbaren Feind zu kämpfen, der schon längst gewonnen hatte. Es fehlte mir an Objektivität.
Meine Therapeutin meinte Mal, dass ich Raubbau mit meinem Körper betrieben habe. Das ich dem zu viel zugemutet habe.
Verbissen zu sein bedeutet im Fall vieler (pflegender) Angehöriger zu sehr bestrebt zu sein, so viele Tage wie möglich rauszuholen. Alles für ein bisschen Linderung des Lieblingsmenschen zu tun. Genesung oder zumindest weitere Zeit ist das große Ziel. Zum Anderen führt diese Verbissenheit in diesem Thema auch dazu, dass „wir“ Angehörigen uns nicht völlig nutzlos fühlen. Weil wir etwas tun können. Irgendwas. Pflegen, Hoffen, Da sein, medizinische Kleinstbehandlungen wie Spritzen setzten und Ähnliches. Ab einem gewissen Grad der Erkrankung sind die nächsten Angehörigen bzw. die Inhaber/innen der Gesundheitsfürsorge Ansprechpartner für Ärzte. Das alles wirkt nach Außen wie eine gigantische Last. Von Angehörigen können diese Dinge aber auch als postives Gefühl wahrgenommen werden. Weil wir eben etwas tun können. Mehr als nur daneben zu sitzten und auf den Tod zu warten.
Zu sehr auf ein bestimmtes Ziel fixiert zu sein, kann besonders bei „uns“ Angehörigen auch dazu führen, dass wir unsichtbare Scheuklappen tragen. Es dauert oft eine ganz Weile, bis die wirkliche Sicht auf die Dinge wieder klar ist. Manche Angehörigen versuchen das Ziel „mehr Zeit“ bis zum Tod des Lieblingsmenschen durchzusetzen.
An diesem Montag bevor mein Mann verstorben war, fühlte ich ein schlechtes Gewissen. Ich sagte ihm zwar immer dass er nicht kämpfen muss, wenn er zu müde ist…Aber zeitgleich hoffte ich immer auf sein Ja, wenn es um einen neuen Therapieversuch ging. Einmal flehte ich ihn regelrecht an. Als er in seinem Klinikbett erneut vor mir lag, mit zich Schläuchen, einer Atemdruckmaske und kaum ansprechbar fragte ich mich das erste Mal, ob es eigentlich das Richtige ist, was ich mir die ganze Zeit wünsche. Mehr Zeit. Mit ihm. Er litt und das nicht erst seit ein paar Tagen. Es wurde trotz ewig vieler Therapien immer schlimmer anstatt besser.
Der letzter Anker sollte diese große OP sein. Eine OP obwohl er bereits im Koma gelegen hatte. Eine OP, die maximal den Ist-Zustand für ein paar Wochen länger gehalten hätte. Wir sprachen früher oft darüber. Über mögliche Situationen. Ich wusste dass er das so nicht gewollt hätte. Darum lehnte ich ab. Plötzlich saß diese Psychologin wie aus dem Nix neben mir. Ich resignierte, merkte die Klopfer der Psychologin auf meiner Schulter und versuchte den Worten der zwei Ärzte vor mir zu folgen. Die Behandlung wurde eingestellt. Keine 12 Stunden später war alles vorbei.

6 Jahre Krebs. Die Hälfte der Zeit davon Akut-schlimm. Ich verbiss mich in der Hoffnung, dass es mehr als 6 Jahre werden. Vergeblich.
Du Liebe/r Angehörige/r, versuch das Thema weitere Zeit oder Genesung nicht zu hoch in Deinem Ranking steigen zu lassen. Ja es ist wichtig. Ja, andere Gedanken tun weh. Aber Du riskierst nicht selten irgendwann einen Burn Out, Depressionen, ein Erschöpfungssyndrom, ein Broken Heart Syndrom (Oh ja…das gibt es wirklich) und Ähnliches. Seit gut zu Dir. Sei nachsichtig und mach Dir vor allem selbst bewusst, dass viele Erkrankungen ihre eigenen Regeln haben. Regeln, die Du nicht immer beeinflussen kannst. Wenn Du zu intensiv auf ein Ziel zusteuert, ohne dabei unterwegs nach rechts oder links zu sehen, ist die Gefahr sehr groß, dass Du schöne Dinge gar nicht bemerkst. Und das wäre doch schade, oder? Mit etwas Abstand kann ich Dir sagen, dass es am Ende nicht die Zeit ist die zählt, sondern Dinge die Du bzw. ihr erleben durftet. Und wenn es das bewusste Wahrnehmen eines Guten Morgen Kusses ist.
Verbissen sein ist oft etwas Egoistisches. In meinem Fall war es zumindest so. Ich wollte auf gar keinen Fall die sein, die übrig bleibt. Manchmal kann es helfen über diesen Gedanken wieder etwas reflektierter zu werden.
Du bist tapfer, dass musst Du auch sein. Aber sei weniger verbissen als ich es war und versuche zu spüren wann es einfach zu viel des Guten ist. Für Dich. Für Deinen Lieblingsmenschen. Für Euch. Mach Dich nicht kaputt. Das geht schneller als Du denkst und kann still und heimlich über Nacht passieren.