Und plötzlich bist Du seltsam

Achtung; Triggerwarnung. In diesem Blogpost geht es zum sexuellen Missbrauch, wenn es Dir mit diesem Thema nicht gut geht, lese bitte nicht weiter

Wenn Du auf die Welt kommst bist Du klein, ein Baby und auf Schutz von Erwachsenen angewiesen. Im Optimalfall sind es Deine Eltern, die Dich im Arm halten, Dich wiegen, Dir Kleidung anziehen, Dich füttern und all Deine anderen Grundbedürfnisse stillen, die Du spürst. Du bist so klein, dass Du noch nicht in der Lage bist diese zu formulieren. Der Bauplan in Deinem Hirn ist angelegt aber damit er wachsen und weiter entstehen kann braucht es eine liebevolle Umgebung.

Irgendwann wirst Du größer. Du kannst sprechen, lernst laufen und glaubst eine Zeit lang, dass es alle Menschen auf dieser Welt gut mit Dir meinen. Bösewichte kennst Du aus Zeichtrickfilmen oder Hörspielen. Noch immer brauchst Du schützende Hände über Deinem Kopf, von Erwachsenen, die genau wissen, dass es diese Bösewichte auch im echten Leben gibt. Und manchmal kennst Du sie sogar, ohne zu wissen dass es eben Bösewichte sind.

Du wirst noch älter. Du erkennst dass es doch Menschen auf dieser Welt gibt, die nicht immer Gutes im Sinn haben. Die schütztende Hände über Deinem Kopf sind hoffentlich immer noch da. Aber sie können nicht mehr alles abfangen, weil Du so groß geworden bist, dass Dein Bewegungsradius immer größer wird. Und wenn Du dann plötzlich einen dieser Bösewichte triffst, dann hast Du zwei Möglichkeiten. Darüber reden, mit deinen Eltern oder mit den Menschen, die Dich beschützen wollen. Sie können Dir helfen und dafür sorgen, dass Du weißt dass all das, was Dir möglicherweise passiert ist nicht Deine Schuld ist. Dass Du weißt, dass Du trotz aller schützenden Hände zu einem Opfer geworden ist. Dir wird geholfen, dass Du aus dieser Opferrolle wieder herausfinden kannst, dass Du weißt, dass nicht alle Menschen plötzlich zu Bösewichten geworden sind. Dir wird geholfen, dass Dir dies nicht noch einmal wiederfahren wird.

Oder Du machst es so wie ich. Du schweigst. Jahrelang. Du vertraust anderen Menschen immer weniger weil Du glaubst, dass es da nichts Gutes zu finden gibst. Du hasst Dich selbst, weil Du glaubst selbst daran schuld gewesen zu sein. WEil Du die falschen Klamotten an hattest oder nicht deutlich genug NEIN gesagt hast. Möglicherweise geht es jahrelang so. Immer wieder passiert es und Du traust Dich nicht mit Deinen Eltern oder anderen Bindungsmenschen davon zu erzählen. Weil es Dir peinlich ist und Du glaubst, dass erwachsene Männer dass mit Dir halt so machen dürfen. Du veränderst Dich, erst innerlich, später auch nach Außen. Es wird bemerkt und Keiner weiß so recht was eigentlich mit Dir los ist. Du wirst immer dicker, Du gehst nicht mehr raus. Du wirst in der Schule zu tiefst gemobbt und erzählst auch das zu Hause nicht. Weil es einfach peinlich ist.

Möglicherweise beginnst Du Dich selbst zu verletzen, weil Du all Deine Schmerzen nicht mehr aushalten kannst. Irgendwann landest Du in einer Klinik und Du fühlst Dich in diesem Moment einfach nur bestätigt. Du bist verrückt, das sehen jetzt auch die „Anderen“ so. Aber was eigentlich los ist, das sagst Du weiterhin nicht.

Die Ärzte, Deine Eltern, die Dich immer noch beschützen wollen und das Jugendamt wissen immer noch nicht warum Du Dir selbst so viele Dinge antust. Es wird beschlossen, dass Du von zu Hause ausziehen wirst. Minderjährig. In eine große Stadt, 250 km weit weg von Zu Hause.

Du lebst Dich in der Jugendamteinrichtung ein, Du bist auf einer neuen Schule. Du findest Freunde, aber viele finden Dich immer noch seltsam. Weil Du so grimmig guckst. Weil Du auch im Sommer Langarmshirts oder Strickjacken trägst. Weil Du mit vielen Menschen nicht sprichst und auch weil Du Die bist, die in einem Heim wohnt. In Dir wird es immer schwärzer. Du ekelst Dich vor Dir selbst. Aber Du zeigst es nicht. An einem Abend könnte es passieren dass Du Tabletten nimmst. Jede Menge davon. Und spülst sie mit Bailys runter.

Dann weißt Du nichts mehr. Bis Du in einem Klinikbett aufwachst. Tage später. Mit Kabeln überall. Einer Sonde in der Nase und Handbandagen, die zu Deiner Sicherheit am Bett befestigt sind. Du redest Nicht. Deine Eltern wurden bereits informiert und durchleben vermutlich Höllenqualen. Weil sie sich immer wieder fragen, wie aus dem kleinem Baby am Anfang der Geschichte, dieser zerstörte Teenager geworden ist.

Du bleibst in der Klinik. Wirst auf eine geschlossene Abteilung verlegt. Du denkst, dass Du kaum noch tiefer sinken kannst. Aber Du redest nicht. Es ist Dir egal was Die leute in der Schule denken könnten, die halten Dich sowieso alle für seltsam und komisch. Dir ist auch egal, dass Dich Deine Heimeinrichtung rausgeworfen hat und Du jetzt vor dem Nichts stehst. Du führst eine Beziehung, aber die ist Dir auch egal. Weil das sowieso nicht funktionierte und sich alles komisch und nicht gut anfühlte. Aber immerhin war dieser Kerl nett. Das war doch schon mal was.

Dank der weltbesten Sozialarbeiterin der Station kommst Du nach drei Monaten in ein anderes Heim. In ein Heim in dem Jugendliche wohnen, die schwer zu händeln sind. Gegen jegliche Erwartung ist es eigentlich ganz super dort. Aber reden tust Du trotzdem nicht. Niemals nie. Du schaffst irgendwie die 10 Klasse. Du gehst weiter in die 11. Weil Du Abitur machen willst. Auch wenn kaum Jemand glaubt, dass das in Deiner Seltsamkeit überhaupt zu schaffen ist. Du haste ne Menge männliche Bekanntschaften, nimmst die aber alle nicht ernst.

Irgendwann aber, da kannst Du es nicht mehr aushalten. Du versuchst das Gleiche, was Du schonmal versucht hast. Es klappt wieder nicht und Du denkst, dass Du selbst dazu zu dämlich bist. Du landest wieder in der Klinik. Aber die Einrichtung, in der Du wohnst wirft Dich nicht raus. Du darfst zurückkommen. Einfach so, obwohl Du so ein Risiko bist. Und plötzlich redest Du. Fast schon Beiläufig platzt es aus Dir heraus. Was passiert ist. Wie oft und wer. Plötzlich akzeptierst Du wieder diese schützende Hände über Dich. Hände Deiner Eltern, weil sie trotz Deiner ewigen Seltsamkeit immer noch hinter Dir stehen. Hände der Mitarbeiter des Heimes. Mitarbeiter des Jugendamtes. Und vor allem die schützende Hände eines männlichen Wesens. der so ganz anders war als die Kerle davor. Der blieb auch. Einfach so. Endlich redest Du. Endlich wird Dir geholfen. Aber seltsam wirst Du vermutlich für immer bleiben.

Ich bin mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen. In eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung/ ein „Kinderheim“. Mit 17 zog ich in ein anderes, weil ich aufgrund meiner Vorgeschichte nicht „sozial tragbar“ war. ich versuchte zwei Mal mir das Leben zu nehmen, einmal hätte es fast geklappt. Ich sorgte dafür dass ich bis Heute Narben auf meinem Körper trage, die mir unangenehm sind. Dieses Selbstverletzende Verhalten begleitete mich viele Jahre lang. Ich hörte damit auf als ich 18/19 war. Weil ich eine gute Therapeutin hatte. Und den Rückhalt meiner Eltern, meines Bruders, meiner damaligen besten Freundin und dem Menschen, mit dem ich zu dieser Zeit eine Beziehung geführt hatte. Mit knapp 19 bin ich in meine erste eigene Wohnung gezogen. Mit 20 Machte ich mein Abitur und studierte im Anschluss. Mein Leben wandelte sich endlich zum Guten. Aber erst als ich redete. Erst als ich endlich verstanden hatte, dass es nicht meine Schuld war. Dass es egal ist welche KLeidung ich wann trage. Nichts gibt irgendwem das Recht dermaßen übergriffig zu werden. Niemand ist schuld außer der Täter/die Täterin selbst. Niemand.

Es ist okay, nicht okay zu sein. Ich hätte mir viele einsame Jahre ersparen können wenn ich nur meinen Mund aufgemacht und geredet hätte. Schweigen ist niemals Gold.

Bis heute bin ich eher seltsam als gesellig. Aber ich denke dass ich beziehungsfähig bin. Ich ekel mich nicht mehr vor mir selbst, ich kann lieben und bin dankbar noch am Leben zu sein. Das wäre vermutlich nicht der Fall wenn ich nie geredet hätte.

Lasst Euch helfen. Früher als ich es tat. Bleibt wachsam und nehmt auch nur kleinste Veränderungen wahr. Fragt nach, seit die schützende Hand, der Rettungsanker und vor Allem steckt niemanden mit Narben am Körper in eine Schublade.

Danke

(Um hier Spekulationen vorzubeugen. Meine Familie besteht aus netten Menschen. Meine Eltern, meine Bruder; sie wollten mir zu jeder Zeit helfen; wussten aber nie wie. Weil ich einfach nichts gesagt habe. Sie waren meine Anker und NICHT die Henker. Tausend dank an dieser Stelle für Euer jahrelanges durchhalten)

3 Gedanken zu „Und plötzlich bist Du seltsam

  1. Manchmal ist eine helfende Hand da, aber kann nicht erkennen, was gebraucht wird. Das weiß die betroffene Person oft selber nicht.
    Ich habe selbst (in einem ganz anderen Zusammenhang) mit HIlfe von Wingwave ein altes Problem gelöst und gar nicht erkannt, dass es da ist – wie also soll ein Fremder das erkennen, wenn die betroffene Person es oft selbst nicht weiß?

    Hoffe, es geht dir soweit einmal gut und dass du jetzt Kraft hast.

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