Dunkle Gestalten der Vergangenheit

Ihr dunklen Schatten meiner Vergangenheit,

lange habt ihr mich begleitet. Und eigentlich habe ich Euch gut hinter mir lassen können.

Ich habe mir in der letzten Zeit einige alte Fotos von mir angesehen. Wisst ihr, ihr Schatten seid oft darauf zu sehen. Auch wenn ihr nur für mich offensichtlich erkennbar seid.

Früher brachte mein Papa mich oft in die Kita und hat mir jeden Morgen auf dem Weg dorthin Geschichten über den Mond erzählt. Oder über einen riesigen Schornstein, an dem wir immer vorbei gelaufen sind. Auch wenn ich all diese Geschichten bereits kannte, ich wollte sie immer wieder hören. Meine Mutter hat mir oft mein liebstes Essen gekocht, wir haben Ausflüge gemacht und beide streichelten mir durchs Haar wenn ich krank gewesen bin. Mein Bruder ist irgendwann zu Hause ausgezogen, da er woanders lernen gegangen ist. Vorher habe ich immer heimlich mit seinem Computer gespielt, ihn als Bodyguard benutzt wenn mich wer geärgert hatte oder er verheimlichte vor meinen Eltern Anrufe meiner Lehrer, weil er die entgegengenommen hatte.

Aber dann, ja dann habt ihr das erste mal das Spielfeld betreten. Ich war etwa 12 Jahre alt. Während mein Bruder und meine Eltern mir nie hätten ein Haar krümmen können , ward ihr plötzlich da.

Zumindest Einer von Euch. Du warst zuvor auch irgendwie ein Teil der Familie. Für mich wurdest Du zu einer dunklen Gestallt mit langen Krallen, spitzen Zähnen und einem Willen, der meinen gebrochen hat. Erst nur zögerlich und fast schon vorsichtig. Hinterhältig irgendwie. Mit der Zeit immer mehr.

Du warst größer als ich. Und älter. Und stärker. Du hast Dinge getan, über die ich lange Zeit nicht gesprochen habe. Dinge, die nicht richtig waren. Du wusstest das und meintest immer, dass das unser Geheimnis bleiben soll. Weil sonst alle ganz traurig und sauer auf mich wären.

Ich fürchtete mich davor keine Mondgeschichten mehr zu hören. Oder dass mir Niemand mehr durch die Haare streichelt wenn ich krank bin. Ich schwieg. So wie Du es wolltest.

Oft fühlte ich mich so schmutzig, dass auch die längste Dusche nichts daran geändert hat.

Als ich 15 wurde, sind an meinen Armen und Beinen Spuren von Dir aufgefallen. Ich schwieg als mich eine Ärztin danach fragte.

Ich schwieg auch als ich kurze Zeit später ausgezogen bin. Weit weg von Dir. Dich habe ich verlassen. Deine Spuren sind geblieben. Deinen Gefährten gab es nur in meinem Kopf. Er war dunkel, gruselig und spielte immer wieder Filme von früher und Dir ab. PTBS hat ihn irgendwann eine Ärztin genannt.

Ich wollte unbedingt anders werden um Dir nicht mehr zu gefallen. Ich trug löchrige Hosen, verschieden farbige Schuhe, bunte Haare, hatte Piercings im Gesicht und bunte Bilder auf der Haut. Ich trug überall Aufnäher und Buttons auf meinen Klamotten. Ich hörte grölende Musik. Ich ging oft feiern. Mit allem drum und dran. Nur um nicht an Dich zu denken.

Inzwischen seid ihr wirklich zu Schatten geworden. Diese Filme in meinem Hirn gibt es nicht mehr. Denn irgendwann, kurz bevor du es geschafft hattest mich dahin zu raffen, habe ich geredet. Eine gute Therapeutin tat den Rest. Und vor allem auch mein Wille, dass ich Dich und Euch hinter mich lassen will.

Ich sehe alte Bilder von mir. Auf nahezu jedem Foto im Sommer trage ich Strickjacken oder Armstulpen. Um die Spuren von Euch zu überdecken, bin ich lange Zeit nur so rausgegangen. Auch heute ist das in der Regel so. Weil es mir unangenehm ist, zuzugeben, dass ich früher mal ein Problem hatte. Das Du mein Problem gewesen bist. Taten gibt es keine mehr. Die Narben aber sind geblieben.

Du bist immer noch Älter als ich. Und vermutlich auch größer. Aber lass Dir eins gesagt sein, ich wette dass ich inzwischen wesentlich stärker bin als Du es je gewesen bist. Mental und körperlich.

Wer sich an anderen Menschen vergreift, und wenn diese gar noch Kinder/Teenager sind…dann ist dieser Mensch so unfassbar schwach. Denn sonst hättest Du Dir andere Strategien gesucht um mit dir selbst klar zu kommen.

Ich war nie das Problem. Du warst es. Zu Jeder Zeit nur Du.

Ich trage die körperlichen Spuren, die diese Zeit an mir hinterlassen hat vermutlich mein ganzes Leben mit mir rum. Das ist okay, weil mir Narben zeigen, zu was ich in der Lage bin. Wie stark ich war und dass Du nur ein klitze kleines, erbärmliches Würmchen bist. Und weil ich weiß, dass ich eine Überlebende bin, deren Psyche genauso heilen durfte wie der Körper.

Ich trage Strickjacken und Armstulpen. Du ein Gewissen, dass so dreckig sein muss, dass Dir jetzt die längste Dusche nicht mehr helfen wird.

Ich kann auch heute noch Mondgeschichten hören. Trotz der Geschichte mit Dir.

Ich hatte sogar meine Bilderbuchfamilie. Du hast mir damals erzählt, dass ich so etwas nie haben werde. Du hast Dich geirrt. Wie in so vielen Dingen. Und mir tut es um die Zeit Leid, in der auch ich dir geglaubt habe. Aus Angst vermutlich.

Du dunkle Gestalt meiner Vergangenheit, ich habe Dich lange nicht gesehen. Und ich habe auch nicht vor dass je wieder zu tun. Du hast mich nicht zerstört. Dafür bist Du viel schwach.

Ich weiß dass Du Dein Leben lebst. Ich weiß auch, dass es nicht unbedingt ein Gutes ist.

Ich bin im Reinen mit mir und meiner Vergangenheit. Also irgendwie auch mit Dir. Ich weiß, dass Du damals falsch gehandelt hast und zum Täter geworden bist. Ich kann nicht vergessen aber tatsächlich vergeben. Auch Dir.

Ich will Dich nur nie wieder sehen. Aber ich kann vergeben.

Weil ich damit zu meinem eigenen, inneren Frieden gefunden habe. Und mich nicht ständig fragen muss, wie wohl mein Leben verlaufen wäre, wenn Du Dich mir gegenüber anders verhalten hättest.

Vermutlich hätte ich eine paar Ecken und „Schlagstellen“ weniger. Vermutlich hätte ich nicht Jahrelang im Sommer Strickjacken oder Armstulpen getragen. Oder lange Hosen. Wer weiß.

Du dunkle Gestalt meiner Vergangenheit, ich fürchte mich nicht mehr vor Dir, deinen Taten und auch nicht vor Deinen Sätzen die all das relativieren wollten. Ich hoffe, dass auch Du inzwischen Hilfe bekommen hast, so das gewisse Dinge sich nicht in deinem Leben fortsetzen.

Du bist niemals stark wenn Du zu einem Täter wirst. Niemals.

Auf Nimmer Wiedersehen.

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6 Gedanken zu „Dunkle Gestalten der Vergangenheit

    1. Vielleicht ist das gar nicht nötig. Ich finde es auch ganz erstaunlich, wie sehr Diese Geschichte meiner Erfahrung ähnelt. Aber: ich persönlich denke, ich muss nicht alles verzeihen. Und das tue ich auch nicht. Stattdessen erlaube ich mir, zu meinem eigenen Wohl, diesem Menschen und seinen Taten keinen Platz in meinem Leben zu geben. Weder im realen Leben noch im Kopf. Das ist vorbei, es wurde lange und hinreichend bearbeitet und hat auch wirklich genug Energie abgezogen. Mehr braucht es da nicht, ich habe schöneres zu tun in meinem Leben. Damit fahre ich schon lange sehr gut. Aber das ist eine ganz individuelle Angelegenheit, macht jeder anders.

  1. Unglaublich diese Story,es muß die Hölle gewesen sein…und noch unglaublicher das du vergeben kannst,es zeigt was für ein besonderer Mensch du bist.
    Auch wenn die Geschichte nicht einfach ist , du verstehst es sie so in Worte zu fassen, daß sie einen ganz tief drinnen berührt..Danke für deine Offenheit..

  2. Du bist wirklich stark! Auch ich habe einen solchen Schatten, jemand der praktisch auch zur Familie gehörte. Lange Zeit habe ich mich geschämt und natürlich habe ich auch mit niemandem gesprochen. Es ist jetzt ewig lange her und ich habe noch keinen Frieden mit mir geschlossen. Und manchmal wenn ich nicht weiß wohin mit diesem inneren Druck und wenn ich mich hilflos fühle, dann …
    Diese Menschen wissen nicht, was sie mit einer einzelnen Handlung auslösen können. Oder sie machen es bewusst um sich stark zu fühlen.

    1. Ich drück dich ganz fest du Liebe. ❤️ Hast du mal überlegt dir Unterstützung zu holen, um Frieden schließen zu können. Oder um mit deinem innerem Druck besser umgehen zu können?

      1. Ja, tatsächlich bin ich in Therapie. Aber ich habe so eine ausgewachsenes Misstrauen, dass ich darüber noch nicht mit meiner Therapeutin gesprochen habe. Ich „taste“ mich langsam ran. Ich habe es noch nie ausgesprochen.

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