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Wie ist das eigentlich mit dem schlechten Gewissen?

Kennt ihr das? Ihr tut etwas und bemerkt später, dass es nicht in Ordnung war? Oder ihr stellt Eure Taten in Frage?

Dann beginnt manchmal etwas an einem zu nagen. Es frisst sich manchmal richtig in das Hirn und geht da so schnell nicht mehr weg. Es können Dinge sein, die für die Außenwelt nur als Kleinigkeiten gesehen werden, aber für Euch ist es ein riesen Ding. Manchmal hilft es, sich zu entschuldigen oder ein Gespräch zu suchen. Was ist aber, wenn das nicht mehr geht?

In meinem Hirn hat sich das schlechte Gewissen niedergelassen. Es sitzt da, hat es sich gemütlich gemacht und scheint mir zuzurufen: „Selbst Schuld“

Ich stelle immer mehr in Frage, mir fallen immer mehr Situationen ein, die mir im nachhinein leid tun. Manche Dinge kann ich klären, andere nicht.

Ich denke an viele Streitereien mit unserem Helden. Darüber, ob der 3. Akkuschrauber wirklich nötig ist, darüber, wer mit dem kranken Kind zu Hause bleibt und darüber, ob ein Männerschnupfen wirklich so dramatisch ist. Ich denke an Nächte, in denen wir getrennt geschlafen haben, weil wir wütend auf einander waren. Ich denke an leere Drohungen, die wir uns gegenseitig (verbal) an den Kopf geworfen haben. Ich denke an die Minzeblättchen, die ich mit Absicht nicht in seinen Cous Cous getan habe, weil ich sauer auf unseren Helden gewesen bin. Ich denke an Sätze wie „Halte durch“ oder „kämpfe wenn Du kannst“, die ich zu Simon sagte, obwohl ich genau wusste, dass er keine Kraft mehr hatte.

Ich erinnere mich an Streitereien mit den Heldenkindern. Daran, dass ich laut geworden bin, obwohl das völlig überflüssig gewesen ist. Daran, dass sie nicht wie andere Kinder öfter in den Urlaub fahren konnten. Daran, dass sie auf so viel verzichten mussten. Daran, dass es mir nicht gelungen ist, sie vor einem großen Verlust zu bewahren. Ich überlege, ob ich gut genug in diesem Muttijob bin.

Ich frage mich oft, ob ich in den letzten Nächten, in denen Simon zu Hause war, eine Hilfe oder Belastung für ihn dargestellt habe. Physisch half ich ihm, wenn er Dinge tun wollte, die er allein nicht mehr geschafft hatte. Körperlich war ich im Dauereinsatz. Ich frage mich, ob mein Lächeln in diesen Momenten manchmal zu wenig war, mein Zuspruch zu gering. Simon waren diese Situationen, in denen er Hilfe brauchte, deutlich unangenehmer als mir. Ich erinnere mich an ein Stöhnen aus meinem Mund, wenn mich unser Held das 15. Mal nach der selben Sache gefragt hat. Mich nervten die Memozettel überall und es ärgerte mich manchmal, dass ich das Haus nicht mehr verlassen konnte. Jetzt tut es mir leid, endschuldigen aber kann ich mich nicht. Ich denke oft daran, dass ich hätte bestimmt noch so viel mehr tun können, insbesondere in den letzten 12 Monaten.

Am meisten aber nagt die Tatsache an mir, dass ich diese eine bestimmte Unterschrift setzen musste. Und noch mehr nagt es an mir, dass ich in diesem Moment sauer auf Simon gewesen bin. Ich war sauer, weil er seine Patientenverfügung nicht ausgefüllt hatte, obwohl sie seit Monaten in unserem Schrank gelegen hatte. Ich war sauer, weil er stattdessen mir seine Gesundheitsfürsorge überschrieben hatte. Ich war sauer, dass ich daher entscheiden musste, ob die Behandlung eingestellt wird. Ich war sauer, dass er da vor mir lag. Im Koma. Mit einem dicken, blauen Beatmungsschlauch im Mund. Ich war sauer, weil er uns zurückgelassen hatte und gestorben ist.

Diese Denkweise, dieses „sauer sein“ ist so bescheuert, dass ich mich jetzt frage, was da eigentlich mit mir los war.

Dieses schlechte Gewissen zerfrisst mich und ich habe das Gefühl darüber kaum reden zu können. Weil es mir unangenehm ist. Weil ich selbst nicht so genau weiß, warum ich so gehandelt oder gedacht habe. Dieses schlechte Gewissen ist widerlich.

Manchmal frage ich mich, was geschehen wäre, wenn ich mich vor knapp 5 Monaten für eine OP, für die Dauerbeatmung via Trachealkanüle entschieden hätte. Die Metastase in Simons Kopf wäre weiter gewachsen, er hätte die Klinik nicht mehr verlassen. Er hätte weder sitzen, sprechen, essen oder laufen können. Dafür hätten die Wahnvorstellungen vermutlich weiter zugenommen. Man könnte nun meinen, dass die letzten Worte hier meine Frage bereits beantworten. Tun sie aber nicht. Ich frage mich, was wäre gewesen wenn…Wäre Simon noch da? Die Ärzte meinten, dass es keine Aussicht auf Besserung gäbe. Aber vielleicht wäre es trotzdem passiert. Diese Gedanken sind scheiße und sorgen dafür, dass mein schlechtes Gewissen immer tiefer in mein Hirn zieht. Das nervt mich. Das ärgert mich.

Das schlechte Gewissen kämpft mit meinem Verstand. Beide Gegner sprechen eine andere Sprache. Manchmal höre ich auf mein Gewissen, an anderen Tagen auf meinen Verstand. Dieser Wechsel ist schwierig und zum Teil recht anstrengend.

Das schlechte Gewissen sorgt für einen Klos in meinem Hals. Es sorgt für viele Gedanken, wenn es ruhig wird. Dieses schlechte Gewissen führt dazu, dass ich das „Urvertrauen“ in andere Menschen verloren habe und mich daher oft frage, was mein Gegenüber gerade für einen Eindruck von mir hat. Sieht mir der Mensch, der vor mir steht, meine Zweifel an? Sieht er, was ich getan habe? Was hätte er gemacht?  Findet er, dass ich einen guten Job mache? Sollte ich schon wieder besser drauf sein? Also lächle ich, rede darüber wie kalt es geworden ist und davon,,dass mein Flur mal wieder gefegt werden sollte. Ich mache das, um abzulenken. Ich mache das, um davon abzulenken, was wirklich in meinem Kopf vorgeht. Zum Glück gibt es meine Therapeutin, da kann ich einfach ich sein.

Ein schlechtes Gewissen nagt. Nicht immer. Es gibt Tage, da ist es weniger präsent. Aber sorgt dafür, dass ich wünschte, viele Dinge anders gemacht zu haben. Und auch dafür, dass ich jetzt versuche, einiges besser hinzubekommen. Ich denke, dass es dabei nicht nur mir so geht. Unsere Minihelden mussten viel verzichten, auf Ausflüge, auf schöne und unbeschwerte Momente. Auf Simon. Auf mich. Ich rede gar nicht von materiellen Dingen, zaubern kann ich nicht. Ich rede von zwischenmenschlichen Dingen. Von Ängsten, die die Kinder aushalten mussten.

Ich glaube, dass sich ein schlechtes Gewissen für niemanden gut anfühlt. Die wenigsten sprechen darüber. Die meisten halten es aus und hoffen, dass es vorbei geht. Das Gewissen nagt. Es kämpft manchmal mit dem Verstand, weil dieser möglicher Weise anderer Meinung ist. Im Optimalfall aber sorgt es auch dafür, manche Dinge später anders zu machen. Ein schlechtes Gewissen, vollkommen irrelevant ob es berechtigt ist oder nicht, sorgt für die eigene Unsicherheit.

Ein schlechtes Gewissen ist schwer zu beschreiben.

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